Und täglich grüßt das Seeungeheuer - Gießener Anzeiger

20.01.2014

MUSIKTHEATER Nigel Lowerys Inszenierung von Mozarts „Idomeneo“ führt ins Reich des Unbewussten / Chor und Orchester in Bestform

GIESSEN - In das dunkle Reich des Unbewussten, der Träume und Albträume entführt uns die aktuelle Produktion des Gießener Stadttheaters. In der Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Idomeneo“, gespielt in der Münchner Urfassung von 1781, hält der englische Regisseur Nigel Lowery konsequent Innenschau und deckt mit dem messerscharfen Blick des Psychoanalytikers die seelischen Vorgänge der handelnden Figuren auf. In der Häufung der surrealen Bilder und Einfälle erschließt sich dem Publikum nicht alles – muss es auch nicht. Wichtig ist, dass die große Not der Menschen, ihre innere Bedrängnis und Verzweiflung fühlbar werden. Und das ist zumindest im zweiten Teil der Fall, wo sich Spannung und Intensität der dreistündigen Aufführung verdichten.

Die äußere Handlung müssen sich die Zuschauer aus dem Gesungenen, den Übertiteln und der Inhaltsangabe im Programmheft zusammenreimen. Ansonsten gilt: Bei weiteren Unklarheiten fragen Sie Ihr Theater oder Dr. Freud!

Dass die Premiere am Samstagabend im vollbesetzten Haus zu einem triumphalen Erfolg wurde, liegt vor allem am großartigen Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann) und dem inspiriert und nuanciert musizierenden Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hof- stetter. Unter seinem ebenso eleganten wie stets fordernden Dirigat bieten die Musiker eine sehr dynamische, im Klangbild transparente Interpretation mit vielen lyrischen Einsprengseln, die mit Naturhörnern und -trompeten dem Klang der Entstehungszeit möglichst nahe kommt. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Musik des damals 24-jährigen Komponisten niemals ihre dramatische Triebkraft verliert und die Ohren mit einer „Fülle von Mirakeln“ überrascht. Hofstetter gelingt das Kunststück, das stilistisch zwischen französischer und italienischer Tradition schwankende Werk wie aus einem Guss erscheinen zu lassen. Schon die einsätzige Ouvertüre ist ein großer Wurf, und die Intermezzi und das ausladende Schlussballett zeugen von der bereits voll entfalteten Meisterschaft Mozarts. Zu den Höhepunkten der Partitur zählt das Quartett im dritten Satz, das die seelische und dramatische Situation voll ausschöpft und somit auch zu den musikalisch intensivsten Momenten dieser Aufführung gehört.

Unterm Sommerflieder

Das gemalte, von Nigel Lowery geschaffene Bühnenbild gibt dem Zuschauer einige Rätsel auf. Man sieht einen weißen Sommerflieder, unter dem die trojanische Prinzessin Ilia ihre Liebe zu Idamante besingt. Doch was die nackte Glühbirne daneben bedeuten soll, ist fraglich. Ilia und alle anderen Bewohner von Sidonia auf Kreta tragen Weiß (Kostüme: Bettina Munzer). Man sieht einen Hummer (Symbol für das Seeungeheuer?) und – ganz wichtig – eine große Kerze. Und jedes Mal, wenn die entzündet wird, geschieht ein Unheil: Ein Mensch wird geopfert, um den Gott gnädig zu stimmen. Es geschieht einige Male, und wie in einem stets wiederkehrenden Albtraum läuft der Vorgang immer gleich ab. (Und täglich grüßt das Seeungeheuer!)

An dieser Stelle kommt der Chor ins Spiel, ein archaischer, schwarz-blau gewandeter Priesterchor mit furchterregenden Fratzen, die eigentlich „Schwellköpfe“ sind, wie man sie aus dem rheinischen Karneval kennt. Mit ihren Köpfen überragen die unheimlichen Priester alle anderen.

Ein kahlköpfiger junger Mann im weißen Nachthemd (irgendwo entsprungen?) wird von den Priestern eingefangen. Sie flößen ihm eine rote Flüssigkeit ein und stopfen ihn in ein überdimensionales Buch, aus dem bald darauf Rauch quillt.

Als musikalischer Seelenschilderer hat Mozart von allen Figuren besonders die beiden Frauengestalten sehr plastisch charakterisiert: die zarte und innige Ilia, die bereits die Pamina der „Zauberflöte“ vorahnen lässt, und die von flammender Leidenschaft getriebene Elletra. Mit Anmut und Herzenswärme füllt Naroa Intxausti als Illia ihre Rolle aus, in der sie mit klar geführtem Sopran und gleichsam schwebende Höhe eine eindringliche Vorstellung gibt. Ihre Arien „Zefiretti“ und „Se il padre perdei“, in der sie dem Widerstreit ihrer Gefühle glaubhaft Ausdruck verleiht, sind Glanzlichter des Abends. Dem steht die amerikanische Gastsängerin Kirsten Blaise als Elletra in nichts nach. In ihrer Stimme lodert das Feuer der Leidenschaft; bei ihr ist alles Exaltiertheit, übersteigerter Ausdruck. Mit gesanglicher Brillanz kehrt Kirsten Blaise in der Arie „Idol mio“ aber auch die mädchenhaft-verspielte Seite dieser an sich düsteren Figur eindrucksvoll hervor.

Ein strahlender Held vom Schicksal umwölkt – das ist Bernhard Berchthold als Idomeneo. Mit seinem festen, klangschönen Tenor führt er eine ganze Menge Strahlkraft und lyrischen Schmelz ins Feld. Durch seine große emotionale Hingabe gewinnt Berchthold seiner Figur, die von Mozart im Vergleich zu den beiden Frauengestalten sehr viel konventioneller gehalten ist, eine enorme Intensität und Präsenz ab. Auch der Countertenor Kangmin Justin Kim, der den Prinzen Idamante erst als zornigen, jungen Mann, dann als einen von der Liebe Überwältigten spielt, versteht es mit gesanglicher Finesse, Funken aus seiner Partie zu schlagen. Die Koloraturen scheint er mit müheloser Leichtigkeit hervorzubringen. Mit seinem sauberen Tenor zeigt Andreas Karasiak als Arbace, dass ihm keine kunstvolle Verzierung zu viel ist. Als Stimme des Deus ex machina ist zum Schluss Calin Valentin Cozma zu hören.

Ab in den Alltag

Wenn das Schlussballett erklingt, gibt es keine Tänzer, sondern Bühnenarbeiter, die eine große Leinwand errichten. Darauf sieht man per Videokamera, wie sich die Mitglieder des Chores in der Garderobe ihrer Priesterköpfe und Kostüme entledigen. Bald darauf stehen sie in Alltagskleidung wieder auf der Bühne und schieben Kinderwagen. Das Spiel ist aus! Das Alltagsleben kann weiter gehen.

Mit lang anhaltendem Applaus und Jubel dankte das Premierenpublikum allen Beteiligten für einen großen Opernabend. Als Regisseur Nigel Lowery betrat, mischten sich in den rauschenden Beifall einige zaghafte Buhrufe.

Thomas Schmitz-Albohn, 20.01.2014, Gießener Anzeiger