Untertänigster Dank - Frankfurter Rundschau

11.06.2014

Belcanto-Prachtstück: Das Stadttheater Gießen entdeckt Emilio Arrietas Oper „Die Eroberung von Granada“.


Während die Ouvertüre zu hören ist, wird in einer Filmprojektion auf dem Gazevorhang ein Granatapfel zerquetscht. Das sieht blutig aus und deutet auf einen Subtext in Emilio Arrietas Oper „Die Eroberung von Granada“. Dann marschiert der Chor wehrhaft ein und huldigt der Königin Isabella und ihren Helden: So überbringt man stilvoll ein Geschenk, und das ist der zweite Subtext des Werkes.

Inquisition und Herrenmenschen-Rassismus

Denn die 1850 uraufgeführte Oper war ein Huldigungsgeschenk Arrietas an Isabella II., die den talentierten Komponisten zum Leiter ihrer Hofoper berufen hatte und sich nun spiegeln konnte im Glanz der Bühnenkönigin Isabella I. Die war im 15. Jahrhundert die machtbewusste Herrscherin von Kastilien, die durch Verehelichung mit Ferdinand II. von Aragón ihr Reich vergrößerte, die Mauren endgültig von der Iberischen Halbinsel vertreiben ließ, ihren Hof auf die Alhambra verlegte und die mörderische Inquisition einsetzte. Davon handelt Arrietas Oper, wobei die Inquisition unerwähnt bleibt und nebenbei ein hispanistischer Herrenmenschen-Rassismus gepflegt wird, mit dem Arrietas Librettist Temistocle Solera (der auch für Verdi schrieb) kein Problem zu haben schien. Isabella I. aber, das edelste Geschöpf unter der Sonne, vernichtet nicht nur die Araber, sondern schickt gleich noch Columbus über den Atlantik.

Arrietas Oper ist ein Prachtstück des Belcanto, und als genau das ist sie im Stadttheater Gießen in einer Inszenierung der Intendantin Cathérine Miville auch zu erleben. Es wird überwiegend ausgezeichnet gesungen. Giuseppina Piunti ist eine markante Isabella und vermag ihrer Figur immer genügend Schärfe und Kälte zu geben. Naroa Intxausti als Zulema und der Tenor Leonardo Ferrando als Gonzalo sind ein überaus seelenvolles, ausdrucksintensives Paar. Adrian Gans ist in dieser Sopran-liebt-Tenor-Geschichte nicht der böse, sondern freundliche und im Ausdruck hörenswert präzise Bariton.

Der Chor, den Jan Hoffmann einstudiert hat, hat erhebliche Aufgaben und löst sie ein ums andere Mal überzeugend und mit enormer dynamischer Reichweite. Jan Hoffmann hat auch die musikalische Gesamtleitung inne. Das Philharmonische Orchester Gießen tut unter seiner Leitung seine Arbeit mit Eleganz und Intensität in der Färbung und mit hoher Präzision in der dynamischen Dosierungsweise. Als szenische Solo-Flötistin auf der Bühne ist Carol Brown zu hören.

Lukas Noll hat ein Bühnenbild ersonnen, das den widersprüchlichen Anforderungen höfischen Lebens gerecht wird. Das Fassadenhafte daran wird sarkastisch markiert, die Namen der Herrscherfiguren Ferdinand und Isabella sind stets als Schrift an der Wand (also als Menetekel) präsent, und die Bühne ist wunderbar für die vielfältigen Bedürfnisse feudaler Herrschaft nutzbar: als Aufmarschfläche, intimer Raum für Liebesschwüre, erhöhter, halb verdunkelter Raum für Intrigen und als düsterer Kerker.

Historisch korrekt inszeniert

Cathérine Miville geht mit dem Stück um wie mit einer Uraufführung, was insofern angemessen erscheint, als dieses Werk am vergangenen Samstag in Gießen überhaupt erst die 17. Aufführung seiner 164-jährigen Geschichte und die erste außerhalb Spaniens erlebte. Es ist die historisch korrekte Inszenierung eines Belcanto-Werkes, und das heißt, dass die wichtigste Aufgabe der Regie darin besteht, die Sänger nicht beim Singen zu stören.

Kommentare zu einem eventuellen aktuellen politischen Gehalt des Werkes bleiben in Ausstattung und Video verborgen und sind im Programmheft nachzulesen. Wer Cathérine Miville kennt, ahnt, dass dieser Verzicht auf eine szenische Würdigung der fürchterlichen politischen Subtexte ihr nicht leicht gefallen sein dürfte. Aber wo anfangen, wo aufhören? Jede halbwegs reflektierte politische Stellungnahme hätte gegen das Stück inszeniert werden müssen, und man hätte für die szenischen Einwände kaum ein Ende gefunden.

So bekommt die stimmige musikalische Oberfläche wenigstens eine Doppelbödigkeit, unter der man einen tiefen Abgrund verorten kann.

Von Hans-Jürgen Linke, 27.05.2014, Frankfurter Rundschau