Wie Regisseur Andrij Zholdak das Gießener Publikum bei deutscher Erstaufführung der Oper „Mirandolina“ ratlos zurücklässt - Gießener Anzeiger

01.04.2014

Es war einmal ein Regisseur aus der fernen Ukraine, der hatte eine Menge wunderlicher Einfälle und fand, dass die Menschen überall auf der Welt davon erfahren sollten. Eines Tages kam er an das Stadttheater der alten Universitätsstadt Gießen und sollte dort die heitere Geschichte von der schönen Gastwirtin Mirandolina, die allen Männern den Kopf verdreht, inszenieren. Der Regisseur sagte aber: „Die Geschichte ist doof, sie interessiert mich nicht. Ich zeige meine eigenen Gedanken, denn die sind viel wichtiger und bedeutender.“

Bei jedem anderen Regisseur hätte das Publikum eine turbulente Komödie erwarten dürfen, in der die schöne Mirandolina von drei vornehmen Herren umworben wird und am Ende doch den Kellner Fabrizio nimmt. Aber nicht so bei dem Mann aus der Ukraine mit Namen Andrij Zholdak: Er hatte ganz andere Dinge im Kopf. Die waren eher religiösen Charakters und nun in verschwenderischer Fülle zu sehen. Zudem war es für die Darsteller ziemlich eng, denn gespielt wurde auf einem schmalen Streifen vor dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang. Und dunkel war es auch.

Auf der verkleinerten Bühne richtete der Regisseur ein großes Durcheinander an. Das Chaos wuchs von Minute zu Minute an, dass es so aussah wie vor einer Sperrmüllsammlung. Die Zuschauer waren einfach nur ratlos und blickten hilfesuchend umher, ob nicht vielleicht einer ihrer Nachbarn eine Erklärung dafür habe. Hatte er aber nicht! Man sah den Requisiteur, der ungefähr 40 Mal auftrat und ständig irgendwelches Zeugs herbeischaffte: Blumen, Tannenzweige, Heiligenbilder, Pellkartoffeln, kleine Aquarien mit Eiswürfeln und vieles mehr. Und jedes Mal, wenn er wieder etwas Neues brachte, rückte er erst seine Brille zurecht und strich sich über seinen Oberlippenbart. Das ging einem schon nach dem dritten Mal auf die Nerven. Aber eines musste man dem Requisiteur lassen: Hinterher hat er die Spielsachen brav wieder Stück für Stück weggeräumt.

Was gab es sonst noch? Man sah einen jungen Mann und eine junge Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet waren und in der Pose des Gekreuzigten an der schwarzen Wand hingen. Von den Mitspielern wurden sie angebetet, abgeschmatzt, gewaschen. Dem jungen Mann steckten sie eine lange Gladiole vorne in den Lendenschurz, die lustig wippte. Man sah ein Dienstmädchen, das Wäsche bügeln wollte, doch immer wieder kam einer vorbei und zog den Stecker aus der Dose. Nach dem achten, neunten Mal hatte sie die Faxen dicke und schmiss die Klamotten hin. Dann schoss ein Mädchen zwei jungen Burschen mal eben so mit der Pistole in den Kopf. Was das bedeuten sollte, war auch nicht klar.

Wahrscheinlich aus Dankbarkeit, weil er in unserem Land leben darf, ließ der Regisseur gegen Ende ein großes Bild von unserer Bundeskanzlerin aufhängen – neben einem Bildnis der Madonna. Darauf blickt sie unter sich. Deshalb weiß man nicht, ob sie gerade betet oder wieder einmal mit ihrem Handy spielt.

Da die Leute am Premierenabend von diesem grässlichen Wirrwarr extrem genervt waren und zudem nur wenig verstanden hatten, klatschte auch kaum einer, als der Regisseur zum Schluss auf die Bühne kam.

Applaudiert wurde aber trotzdem, weil nämlich das Ganze eine Oper war und weil das Philharmonische Orchester Gießen, sein Dirigent Michael Hofstetter und die Sänger ihre Sache sehr gut gemacht hatten. Es war sogar die deutsche Erstaufführung, denn seit der Uraufführung vor 55 Jahren in Prag war die Oper „Mirandolina“ von Bohuslav Martinu noch nie in Deutschland im Original zu sehen. Gut, zu sehen war sie ja diesmal auch nicht (siehe oben), aber zumindest zu hören. Der Dirigent und seine Musiker brachten das lebhafte, kunstvolle und rhythmisch sehr schwierige Werk mit unüberhörbar italienischem Temperament à la Rossini so richtig zum Funkeln. Schade nur, dass das Bühnengeschehen die Musik nicht unterstützte.

Die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli bezauberte das Publikum mit ihrem glockenreinen Gesang, war dramatisch, leidenschaftlich, ungestüm und dann wieder voller Zartgefühl. Auch ihre drei Verehrer machten ordentlich was her: Eric Laporte brachte als Conte Albafiorita seinen vitalen, klangschönen Tenor zur Geltung, Calin Valentin Cozma (Bassbariton) war als Marchese di Forlimpopoli ein Kerl voller Saft und Kraft, und in der Rolle des Frauenhassers Cavaliere Ripafratta ließ Tomi Wendt mit seinem beweglichen, wohlklingenden Bariton den Draufgänger raus. Als Kellner Fabrizio wirkte Ralf Simon bei der Premiere wegen einer Erkältung etwas angegriffen, aber die Gießener wissen ja, dass er sonst über einen strahlungskräftigen Tenor verfügt. Ferner sangen Naroa Intxaustik, Stine Marie Fischer und Vepkhia Tsiklauri.

Und wenn er nicht gestorben ist, zieht der Regisseur noch heute durch die Lande, um die Menschen mit seinen Einfällen zu beglücken. Vielleicht erreicht ihn demnächst ein Angebot aus Oberammergau, wo er seine religiösen Gefühle noch stärker ausleben kann als im Stadttheater. Und die Requisiten aus Gießen kann er auch gleich mitnehmen.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 01.04.2014, Gießener Anzeiger