Wutbürger reiten ohne Pferd im Theaterstudio - Gießener Allgemeine Zeitung

17.03.2014

Andrea Thiesen inszeniert Martin Heckmanns’ Polit-Performance »Wir sind viele und reiten ohne Pferd« im Theaterstudio als rasanten Parforceritt durch die Welt der nach ihren Möglichkeiten suchenden Wutbürger.


Der Wutbürger steckt in der Krise. Er geht auf die Barrikaden, hat ein paar Tage ungeteilte mediale Aufmerksamkeit – und kann doch nur wenig bis nichts von dem verhindern, was ihm gegen den Strich geht. Gras wächst über die Landesgartenschau, Züge rollen in den Stuttgarter Bahnhof ein und fast alle Steuerbetrüger können sich mit einer Selbstanzeige vor dem Knast retten. Wie kann eine Generation ihren Protest artikulieren, die eigentlich das Vertrauen in den Widerstand verloren hat und den Floskeln früherer Protestbewegungen misstraut? Dieser Frage geht Martin Heckmanns in seiner Polit-Performance »Wir sind viele und reiten ohne Pferd« nach, die nun im Theaterstudio im Löbershof zu sehen ist.

Heckmanns hat das Stück 2012 als Auftragsarbeit für das Stuttgarter Staatstheater geschrieben, in der Heimat des modernen Wutbürgers also und zu einem Zeitpunkt, als die Occupy-Bewegung den Banken die rote Karte gezeigt hat. Doch was bei der Uraufführung den Zeitgeist getroffen haben mag, lässt sich heute und hier mit deutlich mehr Distanz betrachten; selbst wenn die Probleme damit noch längst nicht abgehakt sind. Sie sind nur wieder weiter weg gerückt – vielleicht sogar bis in die Ukraine. Und aktuelle Wutbürger erzürnen sich hierzulande weniger über globale Herausforderungen wie Klimawandel, Wirtschaftskrise oder Spekulantentum als über ihr ganz persönliches Problem wie den geplanten Windpark direkt vor ihrer Haustür.

Heckmanns lässt die vier Schauspieler mit Polit-Parolen und APO-Sprüchen das Publikum peitschen. Jeder messerscharf formulierte Satz für sich birgt Wahrheit und bedürfte eigentlich des längeren Nachdenkens. Doch dazu bleibt keine Zeit. Das Staccato im Megafon ist unbarmherzig, ein Wackelkontakt trägt das Seine dazu bei und die Zuschauer bleiben ratlos. Hinzu kommt, dass die vier Schauspieler im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Banalität nicht als Individuen mit persönlicher Geschichte agieren, sondern als namenlose Stellvertreter der wechselnden Protestströmungen. Echte Betroffenheit stellt sich so nicht ein.

»So viel Ende war noch nie« oder »Jeder von uns ist seine eigene Demokratie« lauten die Weisheiten, die im rasanten Tempo auf das Publikum einprasseln. Nichts hilft wirklich gegen die Ratlosigkeit: nicht die Theater-AG, in der zwei komisch raunzende Cowboys um die faire Bezahlung für kleine Törtchen streiten; nicht der Streik, der mit Trillerpfeifen durch das Theaterstudio fegt; und auch nicht die Kunst, die »den Blick auf das Eigentliche verstellt«. Am Ende flüchten sich die Protagonisten in billige Utopien, in denen Gehirnwäsche Zufriedenheit bringt und die Menschheit auf zwei Personen zurückgefahren wird, damit sie noch einmal ganz von vorne beginnen kann.

Regisseurin Andrea Thiesen inszeniert Heckmanns wortlastige Performance mit einigem Geschick. Es ist ihre erste Arbeit für das Stadttheater Gießen. Sie hatte hier schon bei den Hessischen Theatertagen im vergangenen Jahr mit Benjamin Lauterbachs Farce »Der Chinese« gezeigt, dass sie schwierige Themen mit Intelligenz und Witz gleichermaßen umsetzen kann. Und auch mit »Wir sind viele und reiten ohne Pferd« gelingt es ihr, das sperrige Material in einen lebensklugen, aber auch durchaus unterhaltsamen Abend zu verpacken. Das furiose Redequartett, das die Schauspieler Anne-Elise Minetti, Lukas Goldbach, Pascal Thomas und Sebastian Songin mit jugendlichem Schwung auf die Spitze treiben, spickt Theisen mit Kuriosem. Derbe Rockmusik dröhnt unerbittlich aus den Lautsprechern und Lukas Goldbach sorgt als Beatbox für ironische Lautmalerei. Der Abend schrammt haarscharf am Stil einer ambitionierten Schultheateraufführung vorbei: ein bisschen Grips-Theater, ein bisschen 68er-Studenten-WG, ein bisschen Urgrünen-Parteitag.


Bühnenbildnerin Thurid Goertz hat mit den mit Kunstrasen und (R)EVOLUTION-Buchstaben beklebten Holzboxen viel Raum geschaffen, damit sich das Quartett so richtig austoben kann. Und auch der Blick ins Detail lohnt, wenn beispielsweise die »1000 Error«-Scheine durch die Luft fliegen.

Doch auch wenn die eineinhalb Stunden der Aufführung wider Erwarten unterhaltsam daherkommen und zur Premiere auch mit begeistertem Beifall bedacht werden, kann Thiesen doch nicht verhindern, dass man am Ende mit einem faden Nachgeschmack dasitzt. Die Erkenntnis, dass der immer wieder gesungene Kanon »Donna nobis pacem« nur ein frommer Wunsch bleiben wird und der Wutbürger im hoffnungslosen Dilemma steckt, ist eben eine bittere Pille, die wir zu schlucken haben.

Karola Schepp, 15.03.2014, Gießener Allgemeine Zeitung