Abdul-M. Kunze inszeniert »Tschick« im TiL - Gießener Allgemeine Zeitung

27.01.2014

Auch das Stadttheater präsentiert in dieser Spielzeit eine eigene Fassung von »Tschick« nach dem Jugendroman von Wolfgang Herrndorf, die beim Team um Regisseur Abdul-M. Kunze und den Darstellern Vincenz Türpe und Pascal Thomas in allerbesten Händen ist.

Als Wolfgang Herrndorf im Wissen um seinen bösartigen Gehirntumor 2010 seinen Jugendroman »Tschick« schrieb, konnte er nicht ahnen, dass dieser schon bald ein Millionenseller werden würde. Noch bevor das Buch Furore machte und unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, hatte Herrndorfs Freund, der Dresdener Dramaturg Robert Koall, aus der Romanvorlage eine Theaterfassung erarbeitet, die nun auf den Bühnen landauf, landab ebenfalls mit großem Erfolg gespielt wird. Auch das Stadttheater Gießen präsentiert in dieser Spielzeit eine eigene Fassung, die beim Team um Regisseur Abdul-M. Kunze und den Darstellern Vincenz Türpe und Pascal Thomas in allerbesten Händen ist. Am Donnerstag war umjubelte Premiere auf der TiL-Studiobühne.

Kunze, am Stadttheater Fachmann für die Jugendsparte, reduziert das Stück auf die zwei Darsteller. Lässt sich der Road Trip der beiden jugendlichen Ausbrecher, die auf ihrer Tour im geklauten Lada allerhand skurrilen Figuren begegnen, wirklich nur mit zwei Schauspielern spielen? Diese Frage liegt nach der Lektüre des Romans nahe. Und ob, lautet die Antwort, denn Türpe und Thomas schlüpfen mit solcher Hingabe in die unterschiedlichen Rollen und spielen mit so großer Lust auf der Klaviatur der Theatermöglichkeiten, dass der Zuschauer nichts vermisst. Im Gegenteil. Zwei Zitronen unter dem
T-Shirt reichen Pascal Thomas, um das Müllmädchen Isa zum Leben zu erwecken. Vincenz Türpe karikiert den schießwütigen Alten als Michael-Jackson-Parodie und mit Stoffpuppen an Händen und Füßen zaubern die beiden Darsteller gleich eine ganze Familie auf die Bühne. Das ist zum Brüllen komisch, obwohl es doch eigentlich um so melancholische Themen wie den Sinn des Lebens und den Aufbruch in das Erwachsenwerden geht, noch dazu geschrieben von einem, der den eigenen Tod erwartet.

Der »Langweiler« Maik und der »Asi-Russe« Tschick, der eine wie der andere ohne Halt in der Familie und als Außenseiter abgestempelt, erleben ihren unvergesslichen Sommer. »An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit« – der Tote-Hosen-Song dröhnt aus dem Radio des geklauten Lada, als die zwei 14-Jährigen in die Walachei aufbrechen: von der Polizei gejagt, ohne einen richtigen Plan und ohne ein greifbares Ziel. Natürlich endet das Abenteuer nicht mit einem Happy End, sondern im Desaster, doch die Teenager nutzen ihre Chance, wahre Freundschaft und sogar eine unverdorbene Form von Liebe zu erleben.

Bernhard Niechotz hat für »Tschick« eine stark reduzierte Bühne entworfen, die gerade dadurch wunderbar bespielbar ist. Das Podest mit der schrägen Ebene und den an Schienen einklinkbaren Stühlen eröffnet die vielfältigsten Möglichkeiten. Und mit seiner Schräge ist es Symbol für die Schieflage, in die Maiks und Tschicks Leben geraten sind. Neonröhren, die immer dann wie Straßenmarkierungen aufblinken, wenn die Jungs »on the road« sind, schaffen Atmosphäre. Ein Globus im Bühnenhintergrund zeigt die Welt, die die Jungen erobern wollen.

Schon auf den ersten Blick überzeugt die Besetzung der Rollen. Pascal Thomas, mit Polohemd und Lockenkopf, strahlt die Aura eines Kindes des scheinbar wohlgeordneten Bürgertums aus. Dass auch sein Maik ein von der Alkoholiker-Mutter und dem gegen den Bankrott der Firma anstrampelnden Vater seelisch vernachlässigtes Kind ist, entblättert er mit schonungsloser Offenheit. Schüchtern, fast schon vorsichtig, lässt dieser Maik sich von Tschick mitreißen. Seine Gefühle kann er aber nur schwer in Worte fassen. Auch seine angeschmachtete Jugendliebe Tatjana vermag er lediglich mit einem simplen »einfach insgesamt super« zu beschreiben.

Vincenz Türpe liefert als Tschick sein Meisterstück und schlüpft bedingungslos in die Rolle des unbekümmerten Outlaws. Mit Jogginghose und Plastiktüte schlürft er in den Klassenraum, springt dann wieder wie ein junger Hund über die Bühne, nuschelt seine Sätze mit russlanddeutschem Zungenschlag und zelebriert die lässige Pose. Dieser Tschick zieht nicht nur Maik in seinen Bann.

Stück und Buch unterscheiden sich deutlich. Im Roman führt Maik als Erzähler allein durch die Geschichte; auf der Bühne verteilt sich die Aufgabe auf die beiden Darsteller. Anders als in der Vorlage ist die Gerichtsverhandlung, in der sich die Ausreißer zu verantworten haben, die Klammer, die alles zusammenhält. Mehrere Szenen des Road Trips fallen dabei heraus. Das funktioniert jedoch gut – bis auf den Schluss. Da endet die Geschichte auf der Bühne mit Maiks lapidarer Feststellung, dass am Beginn des neuen Schuljahres wieder alle Plätze im Klassenraum besetzt sind – nur Tschicks Platz bleibe leer. Dass Maik im Buch endlich sein Langweiler-Image ablegen kann und einen Teil der Aufmerksamkeit bekommt, die er sich so lange ersehnt hat, fehlt hier: Eine Wendung, die auch dem Theaterstück gut getan und für einen deutlicheren Schlusspunkt gesorgt hätte.

Bleibt zu hoffen, dass sich nicht nur das jugendliche Publikum »Tschick« anschaut. Die Prognose sei gewagt, dass dazu auch noch als Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit Gelegenheit sein dürfte. Schon jetzt ist die Nachfrage nach Karten groß. Die nächsten Vorstellungen am 2. und 16. Februar sind schon ausverkauft.

Karola Schepp, 24.01.2014, Gießener Allgemeine Zeitung