Absurdes Theater wörtlich genommen - Wetzlarer Neue Zeitung

10.03.2015

Da hat sich doch das schlaue Theaterkollektiv FUX wirklich etwas einfallen lassen! "Langer Atem - Stückentwicklung", das ist absurdes Theater wörtlich genommen und mit dem Ensemble des Stadttheaters Gießen flott umgesetzt.


Das Ergebnis: 90 Minuten pointenreiche und genau durchkomponierte Unterhaltung, allerdings mit einigen Längen und Wiederholungen im Mittelteil. Dafür aber wunderbare Schauspieler (Inszenierung: Falk Rößler und Nele Stuhler von FUX), wunderbare Musiker und Sänger (Leitung Florian Ziemen und Martin Gärtner), wunderbare Kostüme (Kathi Sendfeld) und ein wunderbares Bühnenbild (Lukas Noll). Zum Schlussapplaus ein gut gelauntes Publikum auf der einen und strahlende Akteure auf der anderen Seite.

Wo beginnen? Am besten bei Samuel Beckett und seinem 35-Sekunden-Stück "Atem" aus dem Jahr 1969, das er mit einem kleinen Augenzwinkern auf eine Postkarte gekritzelt hat. Die Regieanweisungen lauten folgendermaßen und werden auch in der Gießener Aufführung in verschiedenen Spielarten zitiert: "Dunkel. Dann schwache Beleuchtung der Bühne, auf der verschiedenartiger, nicht erkennbarer Unrat herumliegt. Etwa fünf Sekunden lang. Schwacher, kurzer Schrei und sofort danach gleichzeitig Einatmen und allmählich aufhellende Beleuchtung. Stille, etwa fünf Sekunden lang. Ausatmen und gleichzeitig allmählich dunkelnde Beleuchtung bis zu dem nach etwa zehn Sekunden gleichzeitig zu erreichenden Minimum und sofort danach Schrei wie vorher. Stille, etwa fünf Sekunden lang. Dann Dunkel."

Bei der Gießener Inszenierung handelt es sich um eine gemeinsame Stückentwicklung des Theaterkollektives FUX mit dem Stadttheater Gießen. Die Gruppe hat sich 2011 im Rahmen des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen formiert. Die Gruppe und Dramaturg Björn Mehlig suchen nach neuen theatralen Formen und nutzten jetzt gern und mit großer Spielfreude den "Theaterapparat" des Stadttheaters Gießen zur Realisierung ihrer Ideen.

Die Schauspieler dürfen sich namentlich nennen. Anne Elise Minetti: "Ich heiße Anne Elise Minetti und bin für Sie heute Abend der Vorhang". Lukas Goldbach: "Ich bin für Sie heute Abend die Zeit". Mirjam Sommer: "Ich bin für Sie heute Abend der Schrei." Milan Pesl und Petra Soltau (Ein und Ausatmen), Rainer Hustedt (Unrat) und schließlich ist Stephan Dorn, der einzige Schauspieler von FUX, das Licht. Ihren ganz besonderen Charme erhält die Szene durch den rampenartigen Bühnenboden, auf dem die acht Schauspieler den auf- und absteigenden Verlauf des Lebens besonders anschaulich und in ausgefeilter Choreographie präsentieren konnten.

Hübsche Staffage ändert sich

Beachtliches Können zeigen die acht Schauspieler, wenn sie als Ensemble fast im antiken Sinn rezitieren: "Wir atmen". Wenig fantasievoll allerdings ist der Text des Songs "Das Leben ist wie eine Sektflasche ohne Korken".

Ein besonderes Highlight sind die Fantasiekostüme, die geschminkten Gesichter und die stylish fixierten Frisuren. Die hübsche Staffage ändert sich, zunächst kaum bemerkbar, im Lauf des Stückes. Wie das Leben eben so spielt: Die Haare werden länger, auch die Hemdsärmel, die Mode ändert sich, und so trägt beispielsweise Petra Soltau zum Schluss einen roten Gürtel, der sie fast zu Boden drückt.

Spektakulär das Bühnenbild: Der Vorhang geht auf und gibt den Blick frei auf einen weiteren Vorhang im Hintergrund. Die Bühne auf der Bühne auf der Bühne und so fort. So ist der Extrachor des Stadttheaters erst ganz klein auf der dritten Bühne im Hintergrund erkennbar, die Sänger in langen Kapuzenmänteln, als wollten sie zu gregorianischen Gesängen antreten. Dann kommen auf der Drehbühne noch die 17 Bläser des Philharmonischen Orchesters zum Einsatz, die das "Musikalische Opfer" von Johann Sebastian Bach intonieren, ein ähnlich ironisch-formales Werk wie der "Atem" von Beckett. Sie spielen in verschiedenen Tempi, erst langsam und getragen, dann werden sie immer schneller bis hin zu einer Kakophonie der Klänge.

Das Zentrum des Lebens ist erreicht. Einen kleinen Überraschungseffekt haben sich die Theatermacher von FUX noch einfallen lassen: Jetzt kommt Beckett in Originalzeit doch noch zu seinem Recht. 35 Sekunden Theater, mit Schrei, Stille, viel Unrat und vor allem Atem.

 

Ursula Hahn-Grimm, 10.03.2015, Wetzlarer Neue Zeitung