Altes Stück - ganz aktuell - Wetzlarer Neue Zeitung

16.09.2014

Ein heftiges Stück Theater, das im Großen Haus in Gießen zum Auftakt der Saison 2014/15 präsentiert wurde. Geschrieben 1911, weist die Tragikomödie "Die Ratten" auch heute, gut 100 Jahre später, erschreckende Aktualität auf.

Gerhart Hauptmann hatte damals gesellschaftliche Missstände im ausgehenden Kaiserreich angeprangert und war mit seinen "Ratten" bei der Uraufführung auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Die Ratten sind immer noch da, und so steht gleichnamiges Stück nicht zuletzt wegen seiner beängstigenden Zeitlosigkeit mittlerweile auf den Spielplänen vieler renommierter Häuser.

Im Stadttheater Gießen jedenfalls spendeten die Zuschauer nach einer gut zweistündigen Aufführung lang anhaltenden Applaus für Regisseur Thomas Goritzki, Bühnenbildner Heiko Mönnich und ein glänzendes Schauspielteam.

Ein illegaler Kindstausch, bei dem das böse Ende absehbar ist

Der Zuschauer blickt auf einen anonymen Parkplatz mit eingezeichneten Parkbuchten, Lampen und einer Reihe von Metallbänken. Ein Ort, der Kälte ausstrahlt und Heimatlosigkeit symbolisiert. Unterschlupf bieten höchstens der abgestellte Wohnwagen im Hintergrund oder der Müllcontainer ganz vorn am Bühnenrand. Und dann gibt es da noch die Gullydeckel, hier geht es hinab in die Kanalisation, hier wohnen die Ratten. Zwei Spielorte, nämlich die Wohnung und der Dachboden des Mietshauses, wurden gegen einen einzigen, den Parkplatz, ausgetauscht.

Alle Mitwirkenden sind versammelt, als sich der Vorhang hebt. Der Schatten eines großen Vogels schwebt über den Menschen und verschwindet im Hintergrund. Die erste Szene führt gleich mitten hinein ins Geschehen. Das Dienstmädchen Pauline ist hochschwanger, weint und flucht, weil sie der Vater des Kindes sitzen gelassen hat, und will ins Wasser gehen. Glaubwürdig in ihrem Elend: Anne-Elise Minetti. Neben ihr auf der Bank sitzt Frau John, die sich sehnlichst ein Baby wünscht, und ihr Geld verspricht für das Kind. Mit dieser Rolle hat die Münchner Schauspielerin Beatrice Boca ihr erfolgreiches Debüt am Stadttheater Gießen geschafft und sich für diese Rolle auch in fleißiger Probenarbeit den Berliner Dialekt zugelegt. Ebenfalls neu am Stadttheater Gießen ist Maximilian Schmidt, der die Rolle ihres gewalttätigen Bruders Bruno spielt.

Der illegale Kindstausch, bei dem dann zusätzlich noch der Säugling der drogenabhängigen Sidonie Knobbe eine Rolle spielt, kann nicht gut enden. Erschreckend glaubwürdig in der Rolle der süchtigen Frau zeigt sich Carolin Weber, die mit ihrem von Krätze verunstaltetem Körper auf die Bühne uriniert (die kleine Wasserpumpe unter dem Rock ist glücklicherweise auch kurz zu sehen). Am Kindstausch beteiligt ist auch Sidonies Tochter Selma (eine kleine Rolle für das neue Ensemblemitglied Simone Müller), die wie ihre Mutter in Schmutz und Unrat lebt.

Es gibt Streit: Als Pauline ihr Kind zurückhaben will, reagiert Frau John panisch. Schließlich weiß nicht einmal ihr eigener Mann (hervorragend: Lukas Goldbach) von dem Kindshandel. Sie fühlt sich verfolgt, von Ratten eingekreist. Deshalb soll ihr Bruder Bruno Pauline einschüchtern. Als dieser dann mit blutverschmierten Händen aus der Kanalisation auftaucht, wird allen klar, dass Schlimmes passiert sein muss.

Parallel zu dieser Tragödie aus dem Arbeiter- und Obdachlosenmilieu erzählt Hauptmann eine Geschichte aus dem gebildeten Bürgertum und überzeichnet diese bis hin zur Satire. Für Hauptmann bietet sich hier auch Gelegenheit, seine Theorien zum naturalistischen Theater darzulegen. Da ist Theaterdirektor Hassenreuter (köstlich: Roman Kurtz), der sich mit dem Schauspielanwärter Spitta darüber streitet, ob die Kunst nur schön oder auch wahr sein muss. Erich Spitta (zerstreut und emotional: Milan Pesl) ist zugleich der Freund seiner Tochter Walpurga (frisch verliebt: Mirjam Sommer), was dem Vater aber deutlich missfällt. In weiteren Rollen ist Petra Soltau als seine Frau zu sehen, Marie-Luise Gutteck ist seine Geliebte. Während die frivole Dame dem Theaterdirektor durchaus glaubwürdig das Hemd vom Leib reißt, ist die Rolle seiner kurzatmigen Frau etwas überzeichnet angelegt.

Schließlich gibt es in dem Stück noch eine Paraderolle für Harald Pfeiffer. Er ist der Hausmeister Quaquaro, der immer zum genau richtigen Zeitpunkt sein höhnisches Gelächter über die Bühne schallen lässt. Er ist der Blockwart, der über alles Bescheid weiß und alle gegeneinander aufhetzt.

So ist das böse Ende vorprogrammiert, das in der Aufführung des Stadttheaters Gießen in einem wirklich drastischen Schluss kulminiert.

 

Ursula Hahn-Grimm, 15.09.2014, Wetzlarer Neue Zeitung