Auch das kann Musical! - blickpunkt musical

27.02.2015

"Entsetzlich! Wie kann man die brutalen Zustände in Gefängnissen als Musical auf die Bühne bringen" So war es sinngemäß in der Pause aus dem Publikum zu hören. Doch auch das kann Musical! Und der Premierenapplaus nach fast zweieinhalb Stunden Vorstellung von "Kuss der Spinnenfrau" bestätigt Intendantin und Regisseurin Cathérine Miville in ihrem Mut, das gesellschaftskritische und psychologische Stück des Autorenduos Kander und Ebbe („Cabaret“, „Chicago“) sowie Terrence McNally („The Full Monty“, „ Catch Me If You Can“) nach langer Zeit wieder einmal auf die Bühne zu bringen.

Mehrfach ausgezeichnet, darunter Tonys für „Bestes Musical“, „Beste Partitur“ und „Bestes Libretto“, feierte „Kiss oft he spiderwoman“ noch im Jahr der Broadway-Premiere 1993 in Wien seine deutschsprachige Erstaufführung in der Fassung von Michael Kunze. Das Landestheater Coburg realisierte aber erst 2002 die Deutschlandpremiere und im gleichen Jahr kam eine Aufführung in Pforzheim heraus, in der Andrea M. Pagani – in Gießen in der Rolle des homosexuellen Häftlings Molina zu sehen – den Revolutionär Valentin verkörperte. Eine der wenigen Aufführungen war zuletzt 2009 in Dortmund zu sehen.

Siedelt „El beso de la mujer araña“ (1976), der Originalroman des argentinischen Schriftstellers Manuel Puig, die Handlung bewusst unbestimmt in irgendeinem südamerikanischen Gefängnis an, so transportiert die Gießener Inszenierung mit ihrer Anspielung auf die „Handyladestation hinter der Wand“ das Stück in die Gegenwart. Damit wird auch verdeutlicht, dass die mehr oder weniger subtilen Foltermethoden, denen der marxistische Revolutionär Valentin (Thomas Christ) und der auf ihn angesetzte Molina (Andrea M. Pagani) sowie andere Häftlinge ausgesetzt sind, in jedem diktatorischen Regime gebräuchlich sind. Das Schreckensregime der Gefängnisdirektorin, mit teuflischer Stringenz und Härte von Petra Soltau dargestellt, lässt an die Gefängnisse der Stasi in der ehemaligen DDR ebenso denken wie an die Gestapo-Gefängnisse (etwa das „Hausgefängnis“ der Zentrale Berlin). Ihr Motto „Wir brechen jeden Widerstand, wir haben Methoden“ spricht für sich. Dazu gehört beispielsweise, einem Verhörten einen Eimer über den Kopf zu stülpen und mit dem Stock darauf zu hauen: „Davon wird man taub, und verrückt sowieso.“ Diese Szene wird links vorne auf der Bühne dargestellt, ansonsten wird Folter verbalisiert, weniger gezeigt – so am Anfang das Schlagen der Häftlinge im Aufblitzen von Flashlights im Hintergrund. Angesichts der Präsenz des Themas menschenverachtender Foltermethoden in den Medien (von Geheimdienstverhören unter dem Bush-Regime bis zur Diktatur Mubaraks in Ägypten) ist die Thematik des Musicals aktueller denn je.
Das Bühnenbild von Lukas Noll besteht aus einem zweistöckigen Zellentrakt mit zwei angedeuteten Schleusen zu den Seiten, in deren Mitte die Einzelzellen von Molina und Valentin nach vorne gefahren werden kann. Dabei werden die Gitter hochgezogen und das Geschehen in der Zelle gerät in den Blickwinkel. Bedrohlich hinter dem Ganzen und an den Seiten sichtbar ist das Netz der Spinnenfrau (Sophie Berner), die gleichsam als Schatten eines gewaltsamen Todes immer präsent ist. Es ist, wie Molina singt: „Jeder Mann wird m Ende von ihr geküsst.“ In seiner Angst vor ihr flüchtet sich Molina, der wegen der angeblichen Verführung eines Minderjährigen bereits drei seiner acht Jahre in seiner Zelle sitzt, in eine Kinofantasiewelt mit seiner angebeteten Diva Aurora (Sophie Berner). Er entflieht der Wirklichkeit, um nicht an ihr zu zerbrechen, und hilft auch dem Revolutionär Valentin, der eines Tages in seine Zelle geworfen wird, mit dem Alltag der verbalen Attacken durch die sadistischen Wärter Esteban und Marcos (Maximilian Schmidt und Harald Pfeiffer auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Schrecken) fertig zu werden. Und das, obwohl er von der Direktorin auf diesen angesetzt wurde, um den Namen von dessen Verbündeten und privaten Kontakten herauszufinden – geködert mit einem Stück immer wieder variierenden Versprechen, das von Landurlaub, um die kranke Mutter zu sehen, bis zur Entlassung wegen guter Führung reicht. So soll wohl nicht nur Molina merken, dass hier ein falsches Spiel gespielt wird, sonder auch das aufmerksame Publikum.

Andrea M. Pagani ist ein herausragender Molina, der seine Figur durch wenige eindeutige Gesten etwas Zaza-Profil gibt, sodass das Publikum schmunzeln muss. Sein Verhalten wirkt aber auch niemals übertrieben, sondern sehr natürlich. Pagani vermittelt die große Menschlichkeit sowie Größe seiner erniedrigten Figur berührend und bedient ebenso gekonnt lyrische Partien wie Sprechgesang. Überflüssig wirkt das mehrfache Auftauchen der Figur des Kellners Gabriel, die Molinas Charakterisierung absolut nichts hinzufügt.

Thomas Christ sind den Revolutionär Valentin ebenfalls tadellos und harmonisiert in Sprache und Gesangspassagen gut mit Pagani wie auch dem Opernchor, der leider gegenüber der Kraft des Orchesters unter der Leitung von Andreas Kowalewitz größtenteils zu leise und schwer verständlich ist. Dass die Figur des Valentin erst nach und nach Profil gewinnt und gegenüber Molina etwas blass bleibt, liegt sicher auch an der nicht ganz schlüssigen Rollenentwicklung innerhalb des Stücks – was den Wandel in Valentins Einstellung zu Molina und das Ausnutzen ihrer emotionalen Bindung betrifft.

Die Inszenierung lebt von dem Kontrast zwischen der erschreckenden Realität und Molinas Traumfantasien voller Ästhetik, in denen sich Kostümbildner José-Manuel Vázquez einfallsreich ausleben kann: Eine Marilyn Monroe entsteigt im schwarzen Negligé einer Wanne in Form einer Schmuckschatulle und wird im orangenen Kleid mit Strahlen im wahrsten Sinn zur Aurora, Göttin der Morgenröte („Aurora“). In einer anderen Fantasie tritt sie als Marlene-Dietrich-Verschnitt im cremefarbenen Frack auf. Doch das Highlight durch Sophie Berners Präsenz und die an dieser Stelle wunderbar passende Überzeichnung der Figur ist Auroras Auftreten als russische Adlige in großer Pelzrobe mit stilechtem Zarah Leander Akzent.

Leider haben die Tanz-Compagnie von Tarek Assam und Anthony Taylor rein dekorativen Charakter, sodass Längen in den Szenen noch mehr auffallen. Der Tanz des Klinikpersonals (Morphium-Tango), während Molina aufgrund der Vergiftung seines Essens dem Tode nahe ist, wirkt zudem unpassend und sinnlos.

Ästhetisch und zugleich beeindruckend dagegen wirkt die Inszenierung der Spinne in ihrem Netz, deren Schrecken durch die Stacheldraht-Projektion verdeutlicht wird. Sophie Berner suggestive Interpretation von „Lied der Spinnenfrau“ wird dadurch – unterstrichen durch das mit hochstehenden Fasanenfedern geschmückte Leder-Nieten-Kostüm – wirkungsvoll in Szene gesetzt. Generell setzt Berner (auch in ihrem manchmal unmotiviert erscheinenden Kurzauftritten) die Düsternis der tödlichen Verführerin („Komm ich bin die Antwort“) mit Bühnenpräsenz und perfekter Körperlichkeit um.

Der Kontrast zwischen Schrecken und Ästhetik bestimmt die Struktur des Stückes an sich: Die eine Seite bilden die melodiösen, vor allem mit Tango- aber auch mit Samba-Rhythmen angereicherte Musik in den Fantasieszenen sowie die emotionalen Balladen (wie „Marta“, „Meine erste Frau“) – die andere Seite die Schrecken transportierenden Dialoge und psychologischen Profile in den Texten, wie Molinas Reaktion auf Valentins Verachtung: „Wir beide sind Narren, nur ich weiß es.“ Es lohnt sich, sich darauf einzulassen. 


Barbara Kern, blickpunkt musical, März 2015