Begeisternder Beifall für Gießener Inszenierung des Erfolgsstücks „Der goldene Drache“ - Gießener Anzeiger

12.01.2015

Nummer 6, extra scharf: Thai-Suppe mit Hühnerfleisch, Kokosmilch, Thai-Ingwer, Tomaten, Champignons, Zitronengras und Zitrusblättern. Beim Auslöffeln ihrer Suppe im Asia-Restaurant „Der goldene Drache“ stößt die Stewardess, eine Stammkundin, auf eine eklige Zutat, die da ganz bestimmt nicht hineingehört: Es ist ein Zahn, kariös und noch blutig. Was es mit diesem Zahn auf sich hat, wie er in der Suppe landete und wie die Geschichte nach seiner Entdeckung weitergeht, das erfährt der Zuschauer in dem tragikomischen Stück „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig im Stadttheater. Der 47-jährige Autor, dessen Stücke in über 40 Ländern auf den Spielplänen stehen, ist zurzeit einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands.

Im „Goldenen Drachen“, der 2010 von der Fachzeitschrift „Theater heute“ zum „Stück des Jahres“ gewählt wurde, greift Schimmelpfennig die Situation illegaler Einwanderer auf und beleuchtet in zum Teil sehr kurzen, rasch wechselnden Episoden das Leben der Bewohner jenes Hauses, in dessen Erdgeschoss sich der Asia-Imbiss befindet.

Bei der Premiere am Samstagabend im gut besuchten Stadttheater zeigte sich, dass die Vorlage bei dem jungen Regisseur Malte C. Lachmann (25) und fünf hellwachen Darstellern in allerbesten Händen ist. Das fanden auch die Zuschauer, die sich gut unterhalten fühlten und nach anderthalb Stunden ausgiebig und begeistert klatschten. In Lachmanns Inszenierung laufen die Vorgänge wie in einer perfekten Choreografie mit minutiöser Genauigkeit ab. Zudem hält der Regisseur geschickt die Balance zwischen Komik und Tragik, was gar nicht so einfach ist, wie Aufführungen in anderen Städten gezeigt haben. Die Nähe zum Klamauk ist nämlich immer gegeben. Fünf Schauspieler bestreiten 16 Rollen in über 40 Szenen. Alte spielen Junge, Männer Frauen und umgekehrt. Jeder muss in Sekundenschnelle von der einen in die andere Rolle schlüpfen. Ein ständiger Kostümwechsel auf offener Szene wäre der reinste Maskenball, Klamauk pur!

Lachmann entgeht dieser Gefahr, indem er die Schauspieler einheitlich in beigefarbene Kleidung (Bühne und Kostüme: Udo Herbster) steckt. Wer im Moment wen verkörpert, wird zum einen durch die Situation, zum anderen durch die betont versachlichte, epische Spielweise deutlich, bei der die Schauspieler immer erzählen, wer sie sind und was sie tun. Und sie treten aus ihren Rollen heraus, indem sie auch die Regieanweisungen sprechen: „Pause“, „kurze Pause“. Mit Flöte, Banjo, E-Gitarre, Spieluhr, Schlagzeug und etlichen anderen Instrumenten untermalt der an der Seite sitzende Musiker Marcel Rudert das jeweilige Milieu der Szenen.

Das alles hört sich kompliziert an, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil. Der Zuschauer hat keinerlei Mühe dem Geschehen zu folgen, bei dem sich mehrere Erzählstränge ständig kreuzen und schließlich zusammengeführt werden.

Auf der Drehbühne ist ein begehbarer Ring in Höhe eines Podests aufgebaut, und in der Bühnenmitte steht eine hohe goldschimmernde Wand, auf der hin und wieder asiatische Schriftzeichen aufleuchten. Mehr braucht es nicht, um vom jungen Chinesen zu erzählen, der nach Deutschland gekommen ist, um seine Schwester zu suchen. Weil ihn sein verfaulter Zahn vor Schmerzen schreien lässt und er als illegaler Einwanderer nicht zum Zahnarzt gehen kann, ziehen ihm seine Kollegen in der Asia-Küche mit einer Rohrzange den Zahn. Der junge Mann verblutet. Erzählt wird aber auch von den beiden Stewardessen im Haus, von dem jungen Paar, das sich wegen einer ungewollten Schwangerschaft streitet, von einem Mann, den seine Frau verlassen hat, von Opa, der noch mal jung sein möchte, und von dem versoffenen Lebensmittelhändler, der die böse Fabel von der hungrigen Grille und der geschäftstüchtigen Ameise bittere Realität werden lässt.

Carolin Weber, Anne-Elise Minetti, Pascal Thomas, Lukas Goldbach und Roman Kurtz machen das prima, sind leichtfüßig, schlagfertig und voller Elan. Alle Fünf sind in diesen anderthalb Stunden ständig auf der Bühne. Eine Verschnaufpause gibt es nicht. Sie zeigen uns einsame Menschen, die alle nichts weiter wollen als ein klein wenig Glück. Das tun sie auch mit wohldosiertem Spielwitz – etwa wenn Carolin Weber und Anne-Elise Minetti zwei betrunkene Männer mimen, die kaum noch ein Wort herausbringen, wenn Lukas Goldbach das Angebot im Lebensmittelladen aufzählt, aber immer die unpassenden Artikel dazu in der Hand hält, oder wenn die Küchenmannschaft pantomimisch der Zahnziehung folgt. Natürlich gibt es auch besonders eindringliche Momente – etwa wenn Carolin Weber und Pascal Thomas das böse Märchen von der Ameise und der Grille vortragen, oder wenn Anne-Elise Minetti zum Schluss von der Heimreise des toten Chinesen berichtet.

Und wer hätte gedacht, dass in der Speisekarte eines asiatischen Restaurants so viel Poesie steckt? Zwischendurch werden immer wieder Menüs aufgerufen, und dabei bringen die Spieler die Nummern wie Gedichte zum Klingen. Zum Beispiel Nummer 74 Bangkok-Art: Entenfleisch mit frischen Champignons, Paprika, Bambus, Zwiebeln, Zitronengras und roter Curry-Kokossauce.

Ein gelungener, kurzweiliger Theaterabend, der zum Nachdenken anregt.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 12.01.2015, Gießener Anzeiger