Bewegend, emotional, erschütternd: US-Kammeroper „For a Look or a Touch“ im TiL - Gießener Anzeiger

17.02.2014

GIESSEN - Der US-Amerikaner Jake Heggie (Jahrgang 1961) schreibt als einer der produktivsten Komponisten der Gegenwart im Auftrag amerikanischer Opernhäuser und für bekannte Sänger wie Kiri te Kanawa. Der dritte Teil seines Opern-Triptychons mit vertonten Holocaust-Geschichten heißt „For a Look or a Touch” (Uraufführung 2007). Mit dessen deutscher Erstaufführung im TiL traut sich das Stadttheater Gießen jetzt an Themen heran, die in Deutschland auch 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht zu kombinieren sind, ohne damit gewisse Tabus zu brechen. Auschwitz, Judenverfolgung und Homosexualität im Musiktheater: So etwas trifft schmerzhaft und zielsicher in die nachkriegsdeutsche Befindlichkeit der bewältigt geglaubten, aber in Wahrheit schamhaft verschwiegenen Vergangenheit.

Der alternde Holocaust-Überlebende Gad Beck erinnert sich an die Zeit mit seinem jungen Geliebten Manfred Lewin, der damals von den Nazis ermordet wurde. Das erlebte Grauen will er lieber vergessen. Erinnerungsstücke bewahrt er wie Reliquien in Vitrinen: Manfreds Fotografie und sein Tagebuch. Überall Totenlichter, Rosen und gerahmte Bilder. Koffer stehen herum mit Andenken, einer alten Schreibmaschine und dem unvollständigen Manuskript der noch zu erzählenden Geschichte. Bernhard Niechotz rückt in seinem Bühnenbild ein winkelförmiges Podest ins Zentrum, das intensiv bespielt wird.

Singender Geist

Manfred erscheint als bleicher, in englischer Sprache singender Geist mit engelhaften Federschwingen auf dem Rücken. Er fordert Gad inständig auf, sich zu erinnern. Der sprechende Gad und der singende Manfred erleben noch einmal ihre „goldenen Jahre“ in Berlin, in denen sie sich verliebten und viel Spaß hatten. Die Musiker im Hintergrund bekommen goldene Varieté-Hüte aufgesetzt, und die herumalbernden Jungs verspritzen Champagner und haschen sich mit der unvermeidlichen Federboa. Doch als plötzlich viele Freunde von den Nazis abgeholt werden und verschwinden, wandelt sich das unbeschwerte Cabaret schnell in ein bedrückendes Melodram. Auch Manfred wird verhaftet und kehrt freiwillig zu seiner Familie ins Konzentrationslager zurück, nachdem Gad ihn mit einer List befreien kann.

Mit der Schilderung des „Singenden Waldes“, einer grauenhaften Foltermethode im KZ, beantwortet Manfred Gads Frage nach dessen Schicksal, bevor der Geist wieder verschwindet. Auch wenn Gads Leidenszeit nach dem Krieg noch lange nicht vorbei ist, bleibt ihm Manfreds Vermächtnis, mit dessen Hilfe er seine Erzählung vollenden kann: „Erinnere dich an alles, um unserer Liebe willen.“

„For a Look or a Touch” ist viel mehr als „nur“ eine Kammeroper. Hans Walter Richter inszeniert dieses außergewöhnliche, etwa einstündige Stück eher als Kammerspiel, Musical und politischen Appell. Nicht die Musik steht im Vordergrund, sondern die Geschichte. Sensibel und liebevoll fokussiert er ausschließlich die Emotionen zwischen den beiden Akteuren. Zwar lässt er die Geschichte tröstlich enden, stellt zu Beginn aber auch den aktuellen politischen Bezug zur erschreckend homophoben Gegenwart in vielen Ländern her.

Gefühl der Fremdheit

Schauspieler Roman Kurtz (Gad) und Bariton Tomi Wendt (Manfred) agieren ungeheuer dicht und intim, liebenswert und zugleich erschütternd. Ihnen gelingen beeindruckende emotionale Wechsel zwischen Lebenslust und Einsamkeit, Liebe und Todesangst. Durch Sprache und Gesang bleiben sie sich seltsam fremd und finden gerade dadurch zu ihrer Symbiose als Mensch und Geist.

Musical-Qualitäten

Musikalisch zurückhaltend begleitet werden sie von Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters unter Martin Spahr. Besonders Celli und Klarinette unterlegen die berührenden Szenen oft mit nostalgischer Melancholie. Heggie komponiert modern aber nicht progressiv und liefert durchaus gefällige Passagen, wobei die Melodievariationen von „Do you remember?“ sogar eingängige Musical-Qualitäten besitzen.

Es konnte wohl wirklich nur einem unbefangenen Amerikaner gelingen, die Autobiografie von Gad Beck (1923 bis 2012) in eine ebenso unterhaltsame wie bedrückende Bühnenform zu bringen. Grauen und Kitsch, Totengesang und Musical werden schauspielerisch und musikalisch derart dicht miteinander verwoben, dass kein Zuschauer davon unberührt bleiben kann. Begeisterter und anhaltender Beifall für eine sehenswerte künstlerische Leistung.

 

Christian Ilg, 17.02.2014, Gießener Anzeiger