»Der goldene Drache« von Roland Schimmelpfennig - Gießener Allgemeine Zeitung

12.01.2015

90 Minuten Kurzweil »süß-sauer« im Stadttheater: Malte C. Lachmann inszeniert »Der goldene Drache« von Roland Schimmelpfennig.


Man nehme: Frische Zutaten, die passenden Gewürze und einen Koch, der sein Handwerk versteht, – und schon hat man ein leckeres Gericht. Man nehme aber auch ein brisantes Thema, fünf Darsteller, die mit Vergnügen in 16 Rollen schlüpfen, und einen Dramatiker, der Meister seines Fachs ist, – und schon hat man die Zutaten für einen gelungenen Theaterabend. Roland Schimmelpfennig hat mit seinem Stück »Der goldene Drache« das Rezept kreiert. Regisseur Malte C. Lachmann, 1989 in Marburg geboren und als freier Regisseur erfolgreich, bereitet das Gericht sozusagen »al dente« im Großen Haus des Stadttheaters zu. Er serviert dem Publikum einen noch nicht einmal 90-minütigen Theaterabend – mit süß-saurer Kurzweil, ohne störende Pause und allem, was Tragikomik so besonders macht.

»Der goldene Drache« – 2009 uraufgeführt, aber auch 2015 brandaktuell – erzählt vom alltäglichen Drama, das die globalisierte Welt, der Umgang mit Flüchtlingen, die Ausbeutung von Illegalen und unser aller Konsumwahn auslösen. Im asiatischen Schnellimbiss ackern fünf Asiaten in der winzigen Küche wie in einem Hamsterrad. Einer von ihnen, ein kleiner Chinese, der eigentlich nur seine Schwester sucht, hat furchtbare Zahnschmerzen. Zum Arzt gehen kann er nicht, denn er ist illegal im Land, hat Angst vor Entdeckung. Seine Kollegen ziehen ihm den kariösen Übeltäter. Dieser landet im Wok – und der kleine Chinese verblutet. Doch trotzdem wird weiter gekocht für die Stammkundschaft: den dubiosen Lebensmittelhändler, den von seiner Frau verlassenen Mann, das Paar, das mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert ist, den Alten, der unbedingt noch einmal jung sein will, oder die zwei müden Stewardessen, die nach einem Langstreckenflug den Zahn des kleinen Chinesen in ihrer Suppe finden.

Schimmelpfennig, einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker (sein Stück »Das schwarze Wasser« wurde gerade in Mannheim uraufgeführt), verwebt die tragische Geschichte in der Parallelwelt des Asia-Imbiss kunstvoll mit den Krisen der Durchschnittsleute. Aller Geschichten sind irgendwie miteinander verbunden, doch die Männer und Frauen bleiben namenlos, ohne echte Kommunikation und emotionale Nähe. Sie werden vorgeführt. Ihre Sätze brechen unvollendet ab und die Auslöser für einen Streit werden nie klar ausgesprochen, geschweige denn Konflikte wirklich konstruktiv gelöst. Die wechselnden Erzähler geben Stichworte für die Szenen, und sprechen à la Brecht Regieanweisungen aus.

Die Figuren, allesamt wie von Schimmelpfennig gewollt komplett widersprüchlich besetzt, bleiben so blass wie ihre nudefarbenen Gewänder – und sind damit ideale Projektionsfläche. In den Händen gehaltene Requisiten, wie der Rucksack der jungen Frau oder das gestreifte Hemd des verlassenen Mannes, reichen aus, um eine Rolle zu skizzieren. Hilfreich ist da Lachmanns Kunstgriff, die Figuren vom am Bühnenrand postierten Multiinstrumentalisten Marcel Rudert mit einer Art Erkennungsmelodie auftreten zu lassen. Das von Udo Herbster entworfene Bühnenbild mit dem »Goldener Drache«-Symbol auf metallisch glänzender Rückwand und einer Drehbühne, die wie im Sushi-Restaurant auf einem rotierenden Tresen die Requisiten anliefert, bietet reichlich Raum für extravagante Theaterepisoden.

Dazu gehört auch das Schattenspiel der Marionette, die Asöps Fabel von der Grille und der Ameise aufgreift. Die Grille, die im Sommer bloß getanzt hat, findet im Winter bei der fleißigen Ameise erst nach zähen Verhandlungen widerwillig Unterstützung im Kampf gegen den Hunger: Nur wenn sie für die Ameise auftritt, bekommt sie ein Almosen. Schimmelpfennig erzählt die aktuelle, bis zur letzten Konsequenz weitergestrickte Version dieser alten Fabel und flicht sie kunstvoll in sein Stück ein: Die Grille – es ist wohl die Schwester, nach der der kleine Chinese gesucht hat – wird von der Ameise – im Stück ist es der Lebensmittelhändler – zur Prostitution gezwungen und dem Frust der Männer – dem alten Mann wie dem verlassenen Ehemann – hilflos ausgeliefert. Hier wird Ausbeutung auf die Spitze getrieben.

Aber sind wir nicht auch alle selbst schuld an diesem Drama? Müssten wir nicht einfach nur manchmal ein bisschen genauer hinschauen und Hilfe anbieten, wo Hilfe nötig ist, denn Brutalität entsteht auch aus Gleichgültigkeit? Lukas Goldbach führt uns unsere Verfehlungen vor, wenn er aus dem Einkaufswagen des Lebensmittelhändlers das hervorholt, was Konsumenten begehren. Hier gibt es alles, sogar von Kinderhänden geknüpfte Teppiche und – ganz aktuell – »Merchandising-Artikel von Pegida« und Zeitschriften mit »Karikaturen von bekannten religiösen Ikonen«.

Es ist das Schauspieler-Quintett, das in Gemeinschaftsleistung die mehr als vierzig Szenen trotz der verwirrenden Spielebenen und Zeitsprünge zum rundum gelungenen und nachvollziehbaren Theaterabend macht. Pascal Thomas, Carolin Weber, Anne-Elise Minetti, Roman Kurtz und Lukas Goldbach zelebrieren das blitzartige Eintauchen in fremde Identitäten: Gestandene Männer werden zu hübschen Flugbegleiterinnen und Frauen zu abgründigen Trunkenbolden. Das hat – bei aller Sozialkritik – hohen Unterhaltungswert und bietet Anstoß zum Nachdenken. Keine leichte Kost, auch wenn sie als solche daherkommt und mit einem Lächeln serviert wird.

Karola Schepp, 12.01.2015, Gießener Allgemeine Zeitung