„Der große Gatsby“ im Gießener Stadttheater in rundum überzeugender Inszenierung von Matthias Kniesbeck - Gießener Anzeiger

03.11.2014

Mein Schloss, mein Flugzeug, mein Bugatti – dieser Jay Gatsby scheint sich tatsächlich jeden Wunsch erfüllt zu haben. Ist er deshalb glücklich? Das ist eine der spannenden Fragen, die derzeit auf dem Spielplan des Stadttheaters steht. Denn seit Samstag wird dort „Der große Gatsby“ in einer Version von Rebekka Kricheldorf nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald gezeigt. Am Premierenabend gab es eifrigen Applaus für die Inszenierung von Matthias Kniesbeck, die voll überzeugt.

Mischung stimmt

Das hat ganz maßgeblich damit zu tun, dass es dem Regisseur gelungen ist, in ihrer Dauer fast monumentale drei Aufführungsstunden so zu gestalten, dass zu keiner Minute Langeweile aufkommt. Die Mischung aus Unterhaltung, mehrdeutigem Tiefgang und historischer Exaktheit stimmt einfach bei diesem Stück, das wie ein Mosaik aus Szenen und Liedvorträgen zusammengesetzt ist. Dabei erinnert speziell der Wechsel der Spielszenen, die in rascher Folge unterschiedliche Milieus und Handlungsorte vor das Zuschauerauge bringen, stark an Spielfilmschnitttechniken zur Inszenierung von Gleichzeitigkeit.

Rasches Hin und Her

Dieses rasche Hin und Her, das vielfältige Perspektiven auf den Handlungsverlauf ermöglicht, klappt auf der Gießener Bühne geradezu famos, vor allem dank des schlicht und einfach genial zu nennenden Konzeptes von Stephanie Kniesbeck. Sie nutzt die Möglichkeiten der Drehbühne voll aus, um den Zuschauer innerhalb der Geschichte schnell von A nach B zu bringen. So entsteht ein Erzählfluss, der der Komplexität des Geschehens gerecht wird und gleichzeitig das Zuschauerinteresse auf Dauer fesselt. Die Bilder der einzelnen Szenen selbst sind von einer Art fragmentarischen Gegenständlichkeit gekennzeichnet, die schon 20er-Jahre-Flair aufkommen lässt, dabei aber so durchlässig bleibt, dass die für Mehrdeutigkeit notwendige grundsätzliche Zeitlosigkeit der Kerngeschichte nicht angetastet wird. Stephanie Kniesbeck unterstützt diesen bühnenbildnerischen Ansatz durch die Kostüme, die den Look der Zwanziger leicht modernisieren. Hut ab vor der gesamten Optik des Stücks, die den Ansatz des Regisseurs, eine amerikanische Geschichte der 20er Jahre mit modernen Theatermitteln für das Hier und Jetzt zu erzählen, glänzend unterstützt. Übrigens: Dabei verzichtet Matthias Kniesbeck völlig auf Instrumente wie Videos, um nur auf die Kraft von Schauspiel, Ausstattung und Musik zu setzen. Er wird dafür reich belohnt.

Musikalisches Ensemble

Von Martin Spahr als musikalischem Leiter, der mit den Seinen aus dem Orchestergraben mit historisierenden und modernen Klängen zum Gelingen der Inszenierung maßgeblich beiträgt. Und natürlich von den Schauspielern, von denen viele ihre Gesangsqualitäten beweisen und die sich am Premierenabend glänzend schlugen. Allen voran Pascal Thomas, der als Erzähler Nick Carraway durch das Geschehen führt. Er macht eine richtig gute Figur als junger Mann, der aus einfachen Verhältnissen in die reiche Gesellschaft kommt und bester Freund von Jay Gatsby wird. Dabei gelingt es Thomas wirklich bemerkenswert, die Naivität und Abscheu seiner Figur angesichts dekadenter Lebensverhältnisse rüberzubringen.

Sexbombe

Ein dickes Lob auch für Lukas Goldbach, der die Hauptfigur authentisch als überdrüssigen Lebemann und verzweifelten Liebhaber spielt. Seine Liebe Daisy Buchanan inszeniert Beatrice Boca mit viel Fingerspitzengefühl für die Zwischentöne gekonnt als hin- und hergerissen zwischen großen Gefühlen und finanzieller Sicherheit, die Ehemann Tom Buchanan verspricht. Rainer Hustedt legt ihn als burschikosen Klotz mit Hang zur Selbstverliebtheit an, und es hat viel Spaß gemacht, Hustedt dabei zuzusehen. Vor allem in dem Moment, in dem er nur mit Boxershorts bekleidet auf der Bühne „I‘m a sexbomb“ singt. Der Beifall der Gäste war ihm dafür am Premierenabend sicher.

Apropos Beifall. Damit zu Mirjam Sommer als emotionale Myrtle Wilson, die ihren Mann George – Milan Pešl glänzt als temperamentvoller und eifersüchtiger Gatte – betrügt. Nun ist Sommer ja längst bekannt für ihre beeindruckenden schauspielerischen Fähigkeiten, die auch in dieser Inszenierung zu sehen sind. Kräftigen Beifall gab es am Samstag aber vor allem auch für ihre Gesangseinlagen, bei denen Sommer mit glasklarer Stimme zutiefst berührte. Kalt und berechnend und damit fast als Gegenpol gab sich Anne-Elise Minetti in der Rolle von Profigolferin Jordan Baker, die Erzähler Nick den Kopf verdreht, um ihn dann zugunsten des schnöden Mammons fallen zu lassen. Abgerundet wird diese exquisite Ensembleleistung von Harald Pfeiffer als Mister Gatz, der wie Boca, Minetti und Pešl auch als Partygast zu erleben ist.

Feine Balance

Damit zum Fazit der Inszenierung. Den Geschwistern Kniesbeck und den Ihren ist es gelungen, eine zutiefst beeindruckende Gatsby-Version zu schaffen, gerade weil eine fein austarierte Balance zwischen Unterhaltung, Tiefgang und Historizität gezeigt wird. Das verdient großen Respekt, vor allem auch, weil die Truppe auf ursprünglichste Theatermittel setzt und keinen unnötigen technischen Schnickschnack braucht. Ach ja: Ist Jay Gatsby denn nun glücklich geworden?

Wer das wissen will, sollte zu einer der nächsten Aufführungen am 8., 22. und 29. November, 4., 19. und 27. Dezember, 3. und 16. Januar, 13. Februar, 27. März, 30. April, 24. Mai, 19. Juni, 3. Juli jeweils um 19.30 Uhr sowie am 1. Februar um 15 Uhr im Großen Haus gehen. Es lohnt sich!

Stephan Scholz, 03.11.2014, Gießener Anzeiger