Die Höflichkeit des Theaters - Frankfurter Rundschau

03.03.2015

Aus der Wirklichkeit: „Frau Müller muss weg“ im Stadttheater Gießen


Lustig ist das eigentlich nicht. „Frau Müller muss weg“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz ist ausgezeichnet recherchiert und durchdacht und wird der Wirklichkeit irritierend gerecht. Das Stück ist geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wie man aus der nackten Wahrheit Klischees gewinnen und aus Klischees ein sehr wahres und aufgeklärtes Bühnenstück montieren kann, das Raum für Lacher lässt, ohne dass es zu allzu verfremdenden Übertreibungen oder kabarettistischen Einlagen kommt.

Das Stück hat seinen Stoff dort gefunden, wo in Deutschland die am intensivsten durchlebte und durchfühlte Realitätszone liegt: in der Schule. Es zeichnet eine misslingende Eltern-Zusammenrottung gegen eine Lehrerin, die Eltern geraten aus der Offensive in die Defensive und von da ins Haltlose, die Lehrerin von der Defensive in die Offensive und von da ins Nirgendwo. Es geht in dem Stück nicht um erzieherische Prinzipien und hehre Bildungsgedanken, allenfalls um deren Verlust, eher aber um Projektionen von Erfolg und Erfolglosigkeit. Es geht um eine Gesellschaft, die so gebaut ist, dass Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern und alle zusammen die Bildungsinstitution Schule überfordern. Es geht, mit anderen Worten, nicht nur um die Wirklichkeit, sondern durchaus ans so genannte Eingemachte. Insofern ist es kein Wunder, dass dieses brisante Stück in Gießen zurzeit sowohl im Kino wie auch im Stadttheater zu sehen ist. Nichts gegen Sönke Wortmanns Verfilmung, aber die Intensität des Mediums Theater zeigt eine meilenweite Überlegenheit gegenüber allem, was auf Leinwänden erscheinen kann. 

Cathérine Mivilles Inszenierung will dem Stück mit keiner speziellen Interpretation beikommen. Sie tut dem Bühnengeschehen einfach gut, indem sie es mit elastischem Timing, angemessenem Tempo (Dauer: eine Doppelstunde ohne Pause), ein bisschen verbalem Lokalkolorit und fasslicher Fallhöhe ausstattet. Sie macht es nicht zu einem Ibsen-Drama, das bürgerliche Lebenslügen und ihr mörderisches Potential demaskiert. Aber es ist etwas wie eine Vorstudie dazu. Also nichts Harmloses, nur ein Stück, in dem man noch lachen kann, wenn man mag. Lustigkeit ist eine Höflichkeit des Theaters.

Lukas Nolls Bühnenbild gibt dem theatralen Elternabend einen Grundschulklassenraum mit wandgroßer Tafel. Dass die Eltern von den viel zu niedrigen Schulmöbeln in eine Rolle gebeten werden, in der die Lehrerin ihren Heimvorteil nutzen kann, wird als komödiantisches Potenzial genutzt. Das ausgezeichnet arbeitende sechsköpfige Ensemble funktioniert wie ein automatisches Schweizer Uhrwerk. Es hält ein präzises Echtzeit-Tempo, greift perfekt verzahnt ineinander und zieht sich selbst immer wieder auf. Die Figuren sind dem Alltag und plausiblen Verhaltensmustern abgelauscht, und es ist nicht so, dass die Lehrerin (Carolin Weber) aus diesem Sixpack des psychischen und sozialen Elends herausragen könnte.

Ist es wirklich so schlimm in der Wirklichkeit? Wahrscheinlich. Aber im Theater ist die Wirklichkeit lustiger. 

Stadttheater Gießen, 14. Und 22. März, 1. April, 17., 24. Mai, 3. und 10 Juli. 

Hans-Jürgen Linke, 26.02.2015, Frankfurter Rundschau