"Die Wirrnis der Pinguine“: Düsteres Stück in Schwarzweiß mit hervorragenden tänzerischen Leistungen - Gießener Anzeiger

10.06.2014

GIESSEN - In der TiL-Studiobühne ist es im Sommer immer richtig warm. Das wird im neuen Quartier taT wahrscheinlich anders werden: nach EU-Norm vorschriftsmäßig klimatisiert. Doch genau wegen der Temperaturen passte das Tanzstück „Die Wirrnis der Pinguine“ noch einmal gut in die alte Spielstätte, denn hier musste das Publikum hüstelnd bei Wärme und Nebelmaschine mit den liebenswerten Polartieren leiden. Trotz dieser kleinen Fährnisse spendeten die Zuschauer am Schluss Riesenapplaus für vier Tänzerinnen und einen Tänzer der Tanzcompagnie Gießen, für die beiden Choreografen Tarek Assam und Robert Przybyl sowie Thurid Goertz, die sich fantasievolle Kostüme und eine Eiswelt als Bühnenhintergrund hatte einfallen lassen.

Beim Eintritt ins Theater empfängt die Besucher nun also die Imagination von Eisbergen. Große weiße Quadrate, auf die dann auch Schriftzüge, Bilder, und Videos projiziert werden. Da tauchen auch schon die Tänzer auf, in weiße Overalls gekleidet, mit schwarzen Wollmützen auf dem Kopf. Die Welt der Pinguine, ein Tanzstück ganz in Schwarzweiß. In ihrer ersten Gemeinschaftsproduktion setzen sich Assam und Pryzbyl am Beispiel der Pinguine mit der Frage auseinander, inwieweit eine Gesellschaft fähig ist, sich zu wandeln, um gemeinsam Probleme zu bewältigen. Versucht die Mehrheit, einen Schuldigen zu finden? Wie geht die Gruppe damit um, wenn ihre Dynamik sich aufgrund von äußeren Einflüssen verändert?

Das Publikum hört moderne Musik, dazwischen Geräusche aus dem Meer, das Geschnatter der Seevögel. Als harmonische Gesellschaft sind die Pinguine nur noch als Film zu erleben, auf der Bühne hat die Wirrnis bereits eingesetzt. Hektische Lebewesen, die orientierungslos durch ihre Umwelt taumeln. „Pinguins don‘t run“ ist auf den stilisierten Eisblöcken zu lesen. In der Tat. Rennen können die großen Vögel nicht, dafür aber watschelnd ihre Eier vor sich her transportieren. Davon wissen die verwirrten Geschöpfe aber nichts mehr.

Bedrohlicher Nebel

Welch ein Gegensatz: Die Gesellschaft der Pinguine, die in alter Tradition den überlieferten Regeln folgt, stets nobel gekleidet, höflich, geduldig und treu auftritt, wird plötzlich mit einer Bedrohung konfrontiert, die das Überleben der eigenen Spezies in Gefahr bringt. Denn da liegt Neues in der Luft, Nebel dringt aus einer Düse und es ist nicht klar, ob diese neue Luft mehr Grund zur Freude oder Angst liefert. Der erste Pinguin (Magdalena Stoyanova) passt sich den veränderten Bedingungen an und beginnt das Federkleid abzulegen. Dies ruft die Artgenossen auf den Plan, die aufs Übelste über das Tier herfallen. Große tänzerische Leistungen aller Beteiligten (Caitlin-Rae Crook, Yuki Kobayashi, Jennifer Ruof, Sven Krautwurst), denn sowohl die aggressiven Ausfälle als auch die fürsorgliche Anteilnahme erfordern viel tänzerische Ausdruckskraft und körperliche Präsenz. Vier Tänzerinnen und ein Tänzer: diese Kombination ist nicht häufig zu sehen, hat aber ihre Reize und eröffnet den Akteuren viele Möglichkeiten.

Nach und nach legen alle Vögel ihr warmes „Federkleid“ ab und beginnen sich in wunderschönen, individuellen Tanzkostümen zu formieren, doch immer wieder unterbrochen von abgehackten Zuckungen. Die Tänzer saugen sich mit dem geheimnisvollen Rauch voll, haben aber immer weniger Luft zum Atmen. Sie tanzen zu zweit, zu dritt, bekunden Zuneigung oder beginnen lauthals zu schimpfen. Zwischendurch scheinen sie sich auch in Raubvögel verwandeln zu wollen und kriechen zähnefletschend aufs Publikum zu.

Die Akteure führen verschiedenste Formen der Degeneration und Verzweiflung vor, bis ein neuer Schriftzug eingeblendet wird: „Maybe we can fly??“ Das ist kaum denkbar und wenige akrobatische Versuche der Tänzer zeigen, dass Pinguine dies auch niemals lernen werden.

Pessimistisch

Pinguine sind aber Weltmeister im Schwimmen – hatten sie das vergessen? Mit tiefblauen Unterwasseraufnahmen und einigen vorsichtigen Schwimmversuchen der Protagonisten endet der Tanzabend, zwei Pinguine (Jennifer Ruof und Sven Krautwurst) finden als Freunde neu zusammen. In dem ansonsten eher pessimistischen Tanzstück, das der Frage nachgehen wollte, ob eine Gesellschaft im Zeichen von Gefahr wandlungsfähig ist, ist das Happy End nur angedeutet. Es ist aktuelles Stück, in dem die Tanzcompagnie die drängende Frage des Klimawandels hervorragend interpretiert. Der Applaus für alle Mitwirkenden ist hoch verdient. Nächste Aufführung am 21. Juni um 20 Uhr.

Ursula Hahn-Grimm, 07.06.2014, Gießener Anzeiger