Eine Stimme für die Opfer: »For a look or a touch« - Gießener Allgemeine Zeitung

17.02.2014

Geschichte eines homosexuellen Paares in Berlin: Deutsche Erstaufführung des Musikdramas von Jake Heggie auf der TiL-Studiobühne in der Regie von Hans Walter Richter.


Wenn es gilt, sich auf den Boden des von der Norm Abweichenden zu begeben, komplexe Themen bis hin zu Tabubereichen für die Bühne aufzubereiten, da ist Regisseur Hans Walter Richter erfahren genug, um daraus griffiges Theater zu machen. So war es zu seiner Zeit als Spielleiter am Stadttheater, wo er sowohl mit leichter Hand als auch sensibel für Zwischentöne agierte – im Löbershof von Mozarts »Bastien und Bastienne« bis zu Nymans »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«. Für Hintersinn und zeitübergreifende Bedeutung steht auch seine gelungene Umsetzung der »Geschichte vom Soldaten« im Frankfurter Bockenheimer Depot im März vorigen Jahres.

Im TiL hatte jetzt ein ebenfalls zeitübergreifendes, historisch, psychologisch und sozial bedeutsames Stück Premiere in deutscher Erstaufführung: »For a look or a touch«. Das einstündige Musikdrama von Jake Heggie in deutscher und englischer Sprache (Libretto: Gene Scheer) beleuchtet die Geschichte eines homosexuellen Paares im Berlin der späten Dreißiger bis zum Holocaust und danach.

Vergangenheit und Gegenwart kumulieren im TiL auf einer geneigten dreieckigen Spielfläche in der Ausstattung von Bernd Niechotz. Auf dem Boden erinnern Gedenkinselchen aus Grablichtern, Fotos und weißen Rosen an Vergangenes. Vom Boden bis zur Decke gespannte Stränge sind gleichermaßen Gefängnisgitter und Labyrinth der Erinnerungen. »Do you remember? Erinnerst du dich?« – das ist die insistierende Frage, die der junge Manfred Lewin in dem Zwei-Personen-Kammerspiel stellt. Sie gilt nicht nur dem vereinsamt gealterten Überlebenden Gad Beck, sondern auch dem Publikum, das am Samstag mit hoher Aufmerksamkeit den Facetten der Aufarbeitung folgte. Der Ausgangspunkt: Gad Beck hatte im letzten Moment versucht, in HJ-Uniform seinen jüdischen Freund vor der Deportation zu retten, doch Manfred Lewin stand zu Herkunft und Familie – und ging in den Tod.

Tagebücher, Aufzeichnungen, Fotos, das quälende Aufschreiben-Wollen, die Konfrontation mit dem als engelgleicher Geist auftretenden Geliebten werden in dramatische Form gebracht (choreografische Mitarbeit: Anthony Taylor). Klimax ist Manfreds Aufschrei in der Beschwörung des Horrors: »Der singende Wald« als Sinnbild von Folterqual und Zynismus im Dritten Reich. Die personifizierte Konfrontation von süßen Erinnerungen und Schuldgefühlen klingt aus mit Gads versöhnlicher Frage an den entschwundenen Engel: »Tanzt du noch einmal mit mir?«

Den schlichten Satz spricht Schauspieler Roman Kurtz als Gad Beck mit (trotz angekündigter Indisposition) sanftem Wohllaut. Sein Partner ist der Sänger Tomi Wendt, der mit seinem zarten Phänotyp und charmantem Mienenspiel dem jungen Geliebten Manfred Lewin überzeugendes Profil gibt. Regisseur Richter bleibt mit dem Schwulsein diskret und verzichtet auf allzu Deftiges; Gad wehrt sich zunächst gegen die Vision, doch schließlich vergegenwärtigen Zärtlichkeiten, Umarmungen und Küsse die vergangene große Liebe. Intensiver Körpereinsatz steht neben verhaltener Gestik.

Neben dem ausdrucksvollen Bariton von Wendt, der mit Vokalisen Traumwelten andeutet, geben Mitglieder des Philharmonischen Orchesters – fünf Streicher, zwei Bläser, Klavier – unter der Leitung von Martin Spahr den überaus bereichernden instrumentellen Rahmen. Die Musik im 2007 fertiggestellten Stück trägt viel zur Atmosphäre bei, untermalt unter Einbeziehung der Streichquartetts »In Memoriam« von Gerard Schwarz und Ausschnitten aus Gad Becks »Und Gad ging zu David« die Vorgänge. Das wird bei der ausgelassenen Berlin-Szene auch mal jazzig und erinnert an »Cabaret«; durchgängig ist jedoch die Melancholie in der gemäßigt dissonanten Komposition. Zyklisierende Melodik, ein in sich kreisendes Fragemotiv steht für Unentrinnbarkeit und Trauer. Das schöne Cellosolo von Michael Preuss (Student an der Frankfurter Musikhochschule) führt im Vorspiel in diese Grundstimmung ein.

Dass der Paragraf 175 auch in heutigen Gesellschaften noch präsent ist, dafür stehen eingeblendete Zitate vor Beginn der Bühnenhandlung. »For a look or a touch« ist sicher ein Anstoß zu deren Überwindung. Herzlicher, ausdauernder Beifall für alle Beteiligten.

Olga Lappo-Danilewski, 17.02.2014, Gießener Allgemeine Zeitung