Feminist Fassbinder - Gießener Anzeiger (Kopie 1)

05.05.2014

 „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“: Furioser Auftritt der vier Darstellerinnen

Wer hätte das gedacht? Mit einem geringen Perspektivwechsel kann ein Drama von Rainer Werner Fassbinder auch witzig sein. „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ in einer Aufführung des Stadttheaters Gießen im TiL bot mit kleinen Gesten und pfiffigen Einfällen oft genug Anlass zur Heiterkeit. Und dank des furiosen Spiels der vier Schauspielerinnen gab es auf der Studiobühne kurz vor dem Umzug an den Berliner Platz noch einmal richtig großes Theater.

Andere Zeiten damals, zu Beginn der 70er Jahre, deshalb kann heute ein neuer Blickwinkel nicht schaden: „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ wurde 1971 im legendären Frankfurter Theater am Turm (TaT) uraufgeführt, ein Jahr später folgte Fassbinders Film, mit so bekannten Schauspielerinnen wie Hanna Schygulla, Eva Mattes und Margit Carstensen.

Genug der Legenden. Schon das Bühnenbild von Olga Ventosa Quintana im TiL verspricht einiges: ein großes Bett in der Ecke, Wanddekoration mit Spitzen, ein kleines Zitat an den zum Teil als „dekadent“ kritisierten Fassbinder-Film. Das große Gemälde an der Wand fehlt, dafür werden immer wieder Videoaufnahmen der Darstellerinnen eingeblendet. Regie führt Karoline Behrens, die Kostüme entwarf Selina Tholl.

Start mit einer hervorragenden Jessica Garbe als stumme Bedienstete Marlene, die zunächst mit einer Stirnlampe, dann mit Videokamera das Geschehen ausleuchtet und festhält. Ihre Chefin Petra von Kant (von der ersten Minute an überzeugend: Carolin Weber) liegt ausgestreckt auf dem Bett, Marlene filmt sie von allen Seiten.

Um was geht es in den folgenden 90 Minuten: Die erfolgreiche Modeschöpferin Petra von Kant lebt mit ihrer stummen Sekretärin in einer luxuriösen Wohnung. Ihr erster Mann starb bei einem Autounfall, so ist es im Lauf der Handlung zu erfahren, eine zweite Ehe scheiterte erst kürzlich. Ihre Freundin Sidonie von Grasenabb (köstlich bissig: Petra Soltau) stellt ihr die junge Karin Thimm (erfrischend locker: Mirjam Sommer) vor. Petra von Kant verliebt sich sofort, „zum ersten Mal in eine Frau“, wie sie betont, und macht Karin zum gefragten Modell in der internationalen Modeszene. Die beiden Frauen werden ein Paar, doch Karin hat bald Affären, die sie nicht verheimlicht.

Die Unterdrückungsmechanismen, die Petra von Kant ihrem Mann vorgeworfen hatte, werden ihr nun umgekehrt von ihrer jungen Freundin Karin vorgehalten. Eine Beziehung, geprägt von Macht und Abhängigkeiten, ist zu Ende. Doch das bittere Ende bei Fassbinder wird von Regisseurin Karoline Behrens versöhnlicher gestaltet: Die getreue Marlene schenkt ihrer Chefin einen Kuchen zum Geburtstag und verzieht sich mit ihr aufs Bett.

War früher der Alkohol der große Trostspender, ist es in der modernen Version die Torte geworden. „Vitamine oder Kohlenhydrate?“, fragt Petra von Kant an einer Stelle ihre Freundin. So etwas war für Fassbinder gewiss kein Thema, und auch der Salatkopf, den Marlene serviert, ist in seinem Drehbuch nicht zu finden. Nun, die Mode und die Modells ändern sich. „Go“: Die herrschsüchtigen Befehle, mit denen Petra von Kant ihre junge Freundin auf den Laufsteg schickt, erinnerten doch gewaltig an Heidi Klums Fernsehformat „Germanys next Top-Modell“. Eines aber hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert: Der Voyeurismus, mit dem die Einzelne und die Gesellschaft den Erfolg und das Scheitern ihrer Mitmenschen beobachten. So war die Kamera bei der Gießener Inszenierung immer dabei. Auch Gabriele und Valerie von Kant, die Mutter und Tochter der Hauptfigur, waren, gespielt von Mirjam Sommer, lediglich im Videofilm zu sehen.

Riesenbeifall am Ende für die vier fabelhaften Schauspielerinnen, die sich mit Schreien und Lachen, Tanzen und Lieben völlig verausgabt hatten, oder mit Ironie oder vornehmer Distanziertheit glänzten. Angesichts dieser lebendigen Rollen ist es kaum zu glauben, dass die frühen Feministinnen Fassbinder vorgeworfen hatten, dass sein Stück frauenfeindlich sei.

Im TiL verbeugten sich inklusive Regieteam zum Finale sieben Frauen vor dem begeisterten Publikum: eine super Damen-Combo.

Ursula Hahn-Grimm, 05.05.2014, Gießener Anzeiger