Gallig, schnoddrig und kompromisslos - Oberhessische Presse

23.09.2014

Naturalismus vom Allerfeinsten ist derzeit im Großen Haus am Berliner Platz zu erleben. Zum Spielzeitauftakt zeigt das Stadttheater Gerhart Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“.

Bei der Premiere am Samstag gab es vom Publikum stürmischen Applaus für Goritzkis Version, die das Epochentypische des naturalistischen Dramas, das 1911 uraufgeführt wurde, gekonnt herausarbeitet und zeitgemäß fortschreibt. Zur Erinnerung: Leicht zeitversetzt zur Strömung des Realismus setzt der Naturalismus um Autoren wie Henrik Ibsen, Émile Zola oder eben Gerhart Hauptmann ab Ende des 19. Jahrhunderts in der Literatur auf die fast fotografisch genaue Wiedergabe von Menschen und Milieus. Diesem Ansatz bleibt Goritzki in seiner Interpretation der Ratten-Geschichte um das Elend der Unterschichten und den Kindsdiebstahl der Putzfrau John treu. Und zwar bis ins sprachhistorische Detail, denn der Regisseur lässt seine Truppe sogar berlinern, um auf diese Weise die Verbindung zu Berlin als ursprünglichem Handlungsort zu halten. Der Dialekt macht die Sache allerdings nicht ganz einfach. Denn die Schauspieler waren am Premierenabend phasenweise nur schwer zu verstehen. Manko oder Exaktheit der Milieuschilderung? Eher Letzteres: Lupenreines Deklamieren hätte kaum in dieses Umfeld gepasst. Es gilt also, genau zuzuhören bei diesem Theaterabend, bei dem auch die schlichten Kostüme auf Basis einfacher Straßenkleidung von Heiko Mönnich die Geschichtsverbundenheit Goritzkis unterstützen. Der naturalistische Gedanke wird zudem durch manchen derben Effekt unterstützt.

Kurzum, sehr fein arbeitet der Regisseur das Epochentypische der „Ratten“ heraus. Doch dabei bleibt es nicht. Denn mit seinem sehenswerten Bühnenbild verpasst Mönnich dem Schauspiel einen wohldosierten Schuss Zeitlosigkeit. Er verortet das Geschehen auf einem großen Parkplatz samt Straßenlaternen und Wohnwagen. Und diese Kombination aus historischer Text und Milieutreue und dem modern daherkommenden Parkplatz ist schlicht genial zu nennen. Weil so der Eindruck entsteht, als schalle der Ruf von Hauptmanns Stück unverfälscht aus der Zeit des deutschen Kaiserreichs bis ins Hier und Jetzt - und zwar so, wie er grundsätzlich schon vor über hundert Jahren geklungen haben mag. Hut ab! So modernisiert man Kanonisches. Großen Anteil am Erfolg hatten am Samstag die Schauspieler, die sich allesamt bestens aufgelegt zeigten. Ein Kompliment an die Truppe, doch drei stachen besonders hervor. Anders gesagt: Es war der Abend von Anne-Elise Minetti, Carolin Weber und Beatrice Boca, seit dieser Spielzeit neu am Stadttheater. Am Samstagabend lieferte Boca einen glänzenden Einstand als Frau John, die sich widerrechtlich das Kind von Dienstmädchen Pauline Piperkarcka unter den Nagel reißt. Gallig, schnodderig und kompromisslos stapfte Boca über die Bühne.

Menschlich, allzu menschlich setzte sie Goritzkis Ansatz gekonnt um, genauso wie Minetti. Sie brachte die Verzweiflung der bestohlenen Mutter höchst authentisch auf die Bühne – das ging durch Mark und Bein. Dritte im Bunde war Weber, die als Sidonie Knobbe eine zwar eher kleine Rolle hat, die aber das zutiefst Verlorene ihrer drogenabhängigen Figur geradezu erschütternd lebensecht rüberbrachte. Hut ab vor den drei Damen und der gesamten Truppe um Regisseur Goritzki, die – und das ist höchst verdienstvoll – einen echten Hauptmann auf die Bühne bringt. Prädikat: unbedingt ansehen!