Gelungene Lehrer- und Elternbespaßung: Cathérine Miville bringt Schulstück „Frau Müller muss weg“ auf die Bühne - Gießener Anzeiger

24.02.2015

Duplizität der Ereignisse: Im Kinocenter in der Bahnhofstraße heißt es „Frau Müller muss weg“, und im Stadttheater am Berliner Platz heißt es auch „Frau Müller muss weg“. Auf der Kinoleinwand läuft die Verfilmung des Erfolgsstücks von Lutz Hübner mit Anke Engelke, Justus von Dohnanyi und anderen, und auf der Theaterbühne ist in genau demselben Stück das hiesige Ensemble mit bewährten Kräften zu erleben. Nach dem Gelächter und der freudigen Stimmung bei der Premiere am Sonntagabend zu schließen, schießt das Theater bei diesem Wettstreit in Gießen den Vogel ab. Denn in unmittelbarer Nähe zum Bühnengeschehen zünden die Pointen, der Spielwitz, die Situationskomik – und das Publikum sitzt sozusagen mittendrin im Klassenzimmer. Was Wunder, dass die Zuschauer nach anderthalb Stunden mit überaus herzlichem Applaus für einen amüsanten, rasanten Theaterabend dankten. Der einhellige Jubel im voll besetzten Haus verriet zudem: Dies ist eine gelungene Lehrer- und Elternbespaßung.

Kein Klamauk

Ob Eltern, ob Lehrer, wer einmal einen Elternabend mitgemacht hat, erkennt sich in der einen oder anderen Situation wieder und darf nun herzhaft darüber lachen. Man lacht über Peinlichkeiten, emotionale Ausbrüche und Ausfälle, man lacht über menschliche Schwächen und damit auch über sich selbst. Das Ensemble ist glänzend aufgelegt, und der behutsamen Regie und unaufgeregten Personenführung von Intendantin Cathérine Miville ist es zu verdanken, dass der turbulente Elternabend nicht in Klamauk versandet.

Fünf empörte Mütter und Väter zweifeln die pädagogischen Fähigkeiten der Klassenlehrerin Frau Müller an. Es gibt Unruhe in der Klasse 4b, die Frau Müller einfach nicht in den Griff bekommt. In drei Monaten gibt es Übergangszeugnisse, und die Zulassung zum Gymnasium steht für einige Kinder auf der Kippe. Und weil Frau Müller durch schlechte Zensurvergabe die Zukunft der Kinder gefährdet, haben die Eltern beschlossen: Frau Müller muss weg!

Lutz Hübner (Jahrgang 1964) ist Deutschlands meistgespielter Dramatiker, ein erfahrener Konstrukteur psychologischer Plots. In Gießen waren von ihm unter anderem „Das Herz eines Boxers“ (mit Rainer Domke), „Leichen im Keller“ und „Gretchen 89ff“ zu sehen. Hübners „kritisches Volkstheater“ ist laut, komisch, schmerzhaft, und seine Protagonisten sind keine strahlenden Helden, sondern Alltagsmenschen wie du und ich, die mit den Widersprüchen des Lebens zu kämpfen haben.

Psychokrieg

In seinem Schauspiel „Frau Müller muss weg“ zeigt er, wie ein Elternabend zum Psychokrieg, zur Schlammschlacht wird und wie im Klassenzimmer nur so die Fetzen fliegen. Natürlich spitzt Hübner zu, wenn er Klischees und Verhaltensweisen entlarvt, aber er ist immer dicht an der Realität. Und er ist ein sehr genauer Beobachter, der mit seinem Witz trifft.

Bühnenbildner Lukas Noll hat ein typisches Klassenzimmer in einer Grundschule mit kleinen Tischen und Stühlchen geschaffen, auf die sich die Eltern ungeschickt zwängen. Der Gag: Die hintere Wand mit der Tür ist komplett eine große Tafel. An den übrigen Wänden hängen bunte Plakate mit Merksprüchen und Verhaltensregeln, etwa: „Wir hören einander zu“ oder „Wir ärgern uns nicht und lachen niemanden aus“.

Dies ist also der Kampfschauplatz, auf dem sich Carolin Weber als Klassenlehrerin Frau Müller tapfer gegen die Angriffe der Eltern wehrt und ihnen schließlich schonungslos vor Augen führt, dass ihre hochbegabten Kinder in Wahrheit kleine Monster sind. Carolin Weber zeigt uns eine Frau, die sich aus der anfänglichen Schockstarre allmählich befreit und wieder die alte Souveränität zurückgewinnt. Man spürt, sie ist mitfühlend, verletzlich, engagiert, aber sie lässt sich nicht verheizen.

Ihre Gegenspielerin ist Jessica Höfel, eine Verwaltungsbeamtin aus dem Ministerium, die von Kyra Lippler treffend als knallharte, zielorientierte Karrierefrau im Merkel’schen Hosenanzug verkörpert wird. Diese Frau duldet keine Widersprüche – bis sie erfährt, dass ihre frühreife Laura Entschuldigungen fälscht. Zänkisch bis zur Hysterie – das ist Marie-Lousie Gutteck als Marina Jeskow, eine von Ehrgeiz zerfressene Frau, die ihrem Mann nicht verzeihen kann, dass die Familie wegen ihm von München nach Mittelhessen ziehen musste: „Mittelhessen, das ist doch quasi wie Ausland.“ Erheiterung im Publikum. Als später Roman Kurtz, der den großmäuligen Arbeitslosen Wolf Heider mit Einfühlung und viel Herz mimt, noch einmal gehässig nachfragt: „Wieso wird jemand von München nach Mittelhessen versetzt?“, bricht schallendes Gelächter im Saal aus. Keine Frage, die Pointen sitzen!

Tom Wild steigert sich als Patrick Jeskow in einen herrlich cholerischen Gefühlsausbruch hinein, während sich Beatrice Boca als Katja, alleinerziehende Mutter des Klassenbesten, meist still im Hintergrund hält. Und wenn sie sich zu Wort meldet, möchte sie am liebsten vermitteln.

Überraschende Wendungen

Dieser Elternabend hält einige überraschende Wendungen bereit. Aber nach kurzweiligen anderthalb Stunden ist die Luft raus. Was gesagt werden musste, ist gesagt. Alles Weitere lässt sich nachher noch bei einem Bier oder Wein bereden. Der Abend ist ja noch jung.

Cathérine Mivilles flotte, klug ausbalancierte Inszenierung hält nicht nur dem Vergleich mit dem starbesetzten Film stand, sondern korrespondiert auch sehr schön mit Moritz Rinkes „Wir lieben und wissen nichts“ im taT-Studio. Beide Produktionen führen das Publikum zu den Schlachtfeldern unserer modernen Wohlstandsgesellschaft: da das heimische Wohnzimmer, hier die Schule, an der fortwährend herumgedoktert wird und bei der alle – ähnlich wie beim Fußball – meinen, selbst Experten zu sein.

In diesem Sinne warten wir jetzt auf ein Fußballstück!

Thomas Schmitz-Albohn, 24.02.2015, Gießener Anzeiger