Gießener Ausgräber haben wieder Schatz gehoben - Gießener Anzeiger

18.05.2015

Es beginnt mit einem misslungenen Selbstmord: Rittmeister Othmar Brandstetter baumelt im Wiener Wald schon am Strick – da wird er im letzten Moment gegen seinen Willen heruntergeholt und gerettet. Doch die Behörden nehmen weiterhin an, dass er tot ist. Später, als ihn die Polizei aufgreift, verlangt sie, seinen Totenschein zu sehen, und Brandstetter wird unterwiesen, das nächste Mal, wenn er sterben wolle, besser auf seine Leiche aufzupassen.

Rückkehr auf Bühne


A bisserl Nestroy, a bisserl Horvath, a bisserl Operettenseligkeit, Schmäh und schwarzer Humor – aber vor allem enorm bühnenwirksam ist das, was das Gießener Stadttheater in deutscher Erstaufführung herausgebracht hat. In der Regie des Österreichers Hans Hollmann erlebt die satirische Oper „Kehraus um St. Stephan“ von Ernst Krenek (1900 bis 1990) 85 Jahre nach ihrer Entstehung ihre muntere Rückkehr ins Bühnenleben. Die mitreißende Musik, die flotte Handlung, die kompakte, stimmungsvolle Inszenierung, das vorzügliche Ensemble und nicht zuletzt der überschwängliche, minutenlange Schlussapplaus bei der Premiere am Samstagabend im voll besetzten Haus stellten eindrucksvoll unter Beweis, dass die entdeckungsfreudigen Schatzgräber des Stadttheaters wieder einmal auf einen Goldschatz gestoßen sind. Jahrzehnte lag er unbeachtet in Wien vergraben. Er musste nur gehoben werden. Die Gießener taten es und dürfen nun zu Recht dafür die Lorbeeren ernten.

Im Goldrahmen

Ein „Riesen-Tamtam“ hatte der 82-jährige Regisseur im Vorfeld der Premiere angekündigt, doch seine gut zweieinhalbstündige Inszenierung offenbart zunächst größte Disziplin im Szenischen, ja nüchterne Sachlichkeit, um das überbordende Geschehen nicht ausufern zu lassen und dem Panoptikum einen Rahmen zu geben. So hat Bühnenbildner Lukas Noll im Stil eines Ölschinkens eine Ansicht von Wien geschaffen: Auf einer Anhöhe steht eine knorrige alte Eiche, und links unten im Tal sieht man den Stephansdom und die umliegende Stadt – das Ganze, wie es sich gehört, in einem großen Goldrahmen. Wenn das Spiel beginnt, bleibt nur der leere Rahmen. Das idyllische Bild verschwindet – doch nicht ganz; im Bühnenhintergrund kann man es auf dem Kopf stehend erkennen. Nur wenige Requisiten und gesprochene Ankündigungen wie im epischen Theater sind nötig, um den jeweiligen Schauplatz zu skizzieren: ein Schreibtisch und Telefone fürs Büro, ein Kirmestisch und eine Bank für die Heurigenwirtschaft, ein modischer Hut für den Modesalon sowie Schrifttafeln wie „Anatomie für Erwachsene“ und „Die Wunder Afrikas“ für die Jahrmarktsensationen im Prater.

Collagenartige Musik

Ja, die Wiener Welt steht auf dem Kopf, die Welt in jenem Nachkriegsjahr 1918 ist aus den Fugen. Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Schwarzmarkt, Geschäftemacher, Spekulanten, Arbeiterstreiks, Presseskandale; ehemalige Offiziere müssen sich einen Beruf suchen, andere lassen sich auf windige Geschäfte ein. Es gärt, alles ist im Umbruch, es gibt keinen Halt mehr. Diese Zeit hat Krenek in seiner 1930 komponierten satirischen Oper eingefangen. Die Fülle der Themen und das szenische Panoptikum gehen mit der musikalischen Vielfalt einher. Von Schubert bis zur Schrammelmusik ist fast alles vertreten: hier Mahler und Webern, da Operette, Walzer, Jazz und Schlager. Für die Aufführung in Gießen hätte man am Dirigentenpult keinen Besseren als den Spezialisten für die Musik der 20er und 30er Jahre, Florian Ziemen, finden können. Unter seiner inspirierenden Leitung bringt das Philharmonische Orchester Gießen die collagenartige, pointierte Musik zum Blühen. Ziemen entwickelt ein feines Gespür für die mitunter rasch wechselnden Stimmungen, und dabei wird auch deutlich, dass Krenek fast kammermusikalisch komponiert und auf die Wortverständlichkeit sehr großen Wert gelegt hat.

Viele Gäste

Das Stadttheater lässt sich die Inszenierung einiges kosten, denn für das Personal der Oper, für dieses bunte Sammelsurium österreichischer Typen jener Nachkriegszeit, sind überwiegend Gäste engagiert worden. Allen voran der Heldentenor Wolfgang Schwaninger, der dem gutmütigen, weichherzigen Rittmeister Brandstetter mit stimmlicher Strahlkraft eindrucksvoll Gestalt verleiht. Ihm nimmt man auch den etwas unbeholfenen Mann ab, der mit seinen Moralbegriffen aus der Zeit gefallen scheint. Stimmlich ein expressives Kraftpaket, überzeugt auch der Bariton Martin Berner in der Rolle des Fabrikanten Koppreiter, der sich auf undurchsichtige Geschäfte einlässt. Ihm zur Seite steht der kanadische Tenor Dan Chamandy, der in Gießen schon oft zu Gast war und nun die soldatische Figur des Geschäftsführers Kerezthely mit ungarischem Flair würzt. Als reicher Berliner Industrielle Kabulke, der großmäulig deutschnationale Töne spuckt, reizt der Bariton Tomas Möwes die komische Seite dieser Figur aus. Einen in sich ruhenden, gemütvollen Heurigenwirt Kundrather verkörpert der Bassist Wilfried Staber. Seinen ungestümen Sohn Ferdinand stellt der Tenor Erik Biegel mit feurigem Temperament dar. Melancholie und Töne des Verlusts und der unerfüllten Liebe klingen in Heike Susanne Daums Darstellung der angejahrten Gräfin Elisabeth an.

Hinzu kommen die bewährten Kräfte des Hauses: Als Wirtstochter Maria, Inhaberin eines Modesalons und Miss Vienna ist Naroa Intxausti bezaubernd und keck, ja, die aus dem Baskenland stammende Sopranistin verbreitet allenthalben Wiener Charme, mit dem sie alle um den Finger wickelt. Mit stimmlicher Verve gibt Bassbariton Tomi Wendt dem Enthüllungsjournalisten Schwoistaler Kontur, und Harald Pfeiffer ist als Oberwachmann Sachsl ständig auf der Suche nach der Leich‘. Chordirektor Jan Hoffmann hat einen kurzen Auftritt als Tangosänger, der viel Ähnlichkeit mit einem leichenblassen Johannes Heesters hat. Der Chor gibt den streikenden Arbeitern und den Zeitung lesenden Caféhausbesuchern machtvoll Stimme. Aus dem Chor hat Olga Vogt (Alt) die Rolle der Gesellschaftsdame Nora übernommen.

Thomas Schmitz-Albohn, 18.05.2015, Gießener Anzeiger