Gießener Theaterexperiment „Langer Atem“ am Premierenabend bejubelt - Gießener Anzeiger

09.03.2015

Das Premierenpublikum am Samstag war anders als sonst – deutlich jünger, studentischer, theaterwissenschaftlicher. Erwartungsvolle Gespanntheit herrschte im voll besetzten Haus, als ein für Gießen bislang einmaliges Theaterexperiment seinen Lauf nahm: Die freie Szene hatte sich des Stadttheaterapparates bemächtigt und zu einer „Stückentwicklung“ eingeladen. Aus der Sicht der Macher ist das Experiment geglückt: Jubilierend beklatschten die Zuschauer am Ende eine völlig sinnfreie Aufführung. In anderthalb Stunden wird unterhaltsamer, durchaus witziger, amüsanter Nonsense geboten.

Es ist ein bisschen wie auf einem Kindergeburtstag: Alle sind aufgekratzt, plappern durcheinander und wollen ihre Geschichte erzählen. Für die Erwachsenen ist das zum Teil spaßig, aber auch anstrengend und nervend.

Wie bereits im Vorfeld der Inszenierung berichtet, hat das Theaterkollektiv Fux (Nele Stuhler, Stephan Dorn, Falk Rößler) das ultrakurze Stück „Atem“ von Samuel Beckett zum „Langen Atem“ aufgeblasen, den nicht nur die Schauspieler des Hauses, sondern auch Musiker und Chorsänger mit Leben füllen. Becketts „Atem“ dauert und besteht aus zwei Schreien, einem Atemzug, Unrat und etwas Licht.

So liefert das Ein- und Ausatmen das dramaturgische Grundgerüst für die vielfältigen Variationen des Abends, bei dem Nele Stuhler und Falk Rößler Regie führen. Auf einer nach vorne leicht schrägen Bühne schreiten die Schauspieler immer wieder die an- und absteigende Kurve eines Atemzugs ab – mal alleine, mal in Gruppen, mal miteinander im Gänsemarsch, mal gegeneinander. Mal wird die Kurve mit der Dramentheorie des Aristoteles, mal mit der Lichtablenkung in schwarzen Löchern, mal mit den Zyklen der Weltwirtschaft erklärt. Und jedes Mal, wenn wieder einer auf die Strecke geht, kichert es im Saal.

Wie bei den russischen Matrjoschkas in jeder Puppe eine noch kleinere Puppe steckt, so zitiert das Bühnenbild von Lukas Noll das Stadttheater selbst: Öffnet sich der rote Bühnenvorhang, sieht man eine kleinere Bühne mit rotem Vorhang, und so weiter. Aha, Theater auf dem Theater, auf dem Theater… Und wie bei Kindern, die zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein neues Spielzeug bekommen haben und gar nicht mehr aufhören wollen, damit zu spielen, so scheint sich auch das Regie-Duo in sein neues Spielzeug, den technischen Theaterapparat, verliebt zu haben. Da wird die schräge Fläche mit Getöse einige Male hoch-, runter- und schließlich wieder in die Schräge zurückgefahren. Warum? Diese Frage, die darauf abzielt, was etwas zu bedeuten hat, verbietet sich bei dieser Aufführung.

Hochkonzentriert sind die Schauspieler bei der Sache, die ihre schwierigen Einsätze meistern und sich allesamt als vorzügliche Sprecher ausweisen. Sie tragen graue Kostüme und Anzüge sowie Frisuren des 19. Jahrhunderts (Kostüme: Kathi Sendfeld). In einer stark rhythmisierten Sprechweise reden Anne-Elise Minetti, Mirjam Sommer, Petra Soltau, Milan Pesl, Maximilian Schmidt, Lukas Goldbach, Rainer Hustedt und Stephan Dorn nacheinander, miteinander, gegeneinander. Es ist ein schier endloser Redestrom, und seine Themen sind so vielfältig wie unzusammenhängend: Da geht es ums Lückenfüllen und Wegschneiden, um Geschichten von Socken, Topfpflanzen, einem Nasenflügelkonzert und um vieles mehr.

Der Extrachor tritt in seltsamen Mönchskutten auf und besingt das Leben: „Das Leben ist wie Klopapier, lang und für‘n Arsch.“ – „Das Leben ist wie ein Kinderparadies ohne Kinder.“ – „Das Leben ist wie ein Märchen ohne Geschichte.“ – „Das Leben ist wie eine Sektflasche ohne Korken.“ Gegen Ende blähen sich die Kutten ballonartig auf. Das sieht lustig aus. Gekicher!

In den letzten 20 Minuten dürfen dann noch Bläser des Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Florian Ziemen ran. Sie sitzen im Halbkreis auf der Drehbühne und spielen das Thema aus Bachs „Musikalischem Opfer“, das sich schließlich zur Kakophonie ausweitet.

„Nach alledem und vor alledem, was nun?“ – wenn diese Floskel gefühlte 87 Mal gesprochen wird, geht dem „Langen Atem“ allmählich die Luft aus. Der Kindergeburtstag ist zu Ende: genug getobt, genug gespielt, genug geplappert. Die Spielsachen werden wieder weggeräumt.

Man tritt hinaus ins Freie und freut sich, dass man nach anderthalb Stunden wieder tief durchatmen kann. Theaterexperiment, schön und gut, kann man sich ja mal ansehen. Aber das nächste Mal geht ein anderer hin.

Thomas Schmitz-Albohn, 09.30.2015, Gießener Anzeiger