Großes Kino: »Der Kuss der Spinnenfrau« im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

09.12.2014

Das Musical von John Kander und Fred Ebb feiert im Großen Haus umjubelte Premiere. Fantastische Akteure treffen auf eine in Bann ziehende Inszenierung und feurige lateinamerikanische Tänze.


Sie ist sexy und selbstbewusst, finster und mächtig. Jeder geht der Spinnenfrau ins Netz. Es gibt kein Entrinnen. Und ihr Kuss bringt den Tod. Auf der anderen Seite Aurora, die blonde Schöne mit dem Sonnenstern. Doch Vorsicht: Wer die eine kennt, wird von der anderen verführt.

»Der Kuss der Spinnenfrau« zog bei seiner Premiere am Sonntagabend im Stadttheater alle Register. Fantastische Akteure, eine in Bann ziehende Inszenierung, beeindruckende Kostüme und feurige lateinamerikanische Tänze machten das Musical zu einem Fest für Augen und Ohren. Jubel und der längste Applaus in dieser Spielzeit waren der Lohn für eine stimmige Premiere.

Nach drei erfolgreichen Spielzeiten von »Cabaret« ist »Der Kuss der Spinnenfrau« der zweite Doppelschlag von Dirigent Andreas Kowalewitz und Intendantin Cathérine Miville, die einfühlsam Regie führt. Das Musical stammt wie »Cabaret« aus der Feder des Erfolgsduos John Kander (Musik) und Fred Ebb (Text).

Die Stars heißen hier wie dort Sophie Berner (in einer Doppelrolle als Aurora und Spinnenfrau) und Andrea M. Pagani (Molina), ergänzt um einen weiteren Großen seiner Zunft, Thomas Christ (Valentin).

Die neuerliche spartenübergreifende Mammutproduktion bringt mehr als 40 Akteure auf die Bühne: Neben den Sängern Schauspieler, den Chor und die Tanzcompagnie. Im Graben haut das Philharmonische Orchester Gießen auf die Pauke. Entlang der hinteren Wand steht eine Batterie an Schlagwerk, die von zwei Musikern bedient wird. Hinzu kommen Streicher, vier Saxofone, weitere Bläser, Akkordeon, Halbakustikgitarre und ein Synthesizer. Die Musiker spielen beherzt auf, laben sich an Rhythmusgirlanden ebenso wie an Melodiebögen und der Leitmotivik. Der Sound ist anfangs etwas laut und hart, aber Kowalewitz dreht im Verlauf der Aufführung an den richtigen Stellschrauben, um auch ein Underscoring zu ermöglichen.

Berner ist der Star des Abends, prickelnd, lasziv, feurig. Mit einer Stimme so scharf wie ihre Beine lang sind. Den einzigen Ohrwurm des Stücks beschwört sie dramatisch: »Das Lied der Spinnenfrau«.

»Und der Mond wird bleiern.

Zufall wird Gesetz.

Sie wird dich verschleiern

und je mehr du dich wehrst, desto enger

das Netz.«

Pagani, ein Quell subtiler Unterhaltung, hat mit seiner nonchalanten Art die Lacher auf seiner Seite, aber auch den Tiefgang für sich gepachtet. Er singt mit betörendem Schmelz, während Christ glaubhaft den engagierten Revoluzzer gibt. Dieses Trio spielt in der Champions League – mitten in Gießen. Die Tänzer des Hauses (Choreografie: Tarek Assam und Anthony Taylor) frohlocken geschmeidig Rumba, Samba und Tango. Die Musiker schütteln eine Prise Salsa dazu – fertig ist ein ins Blut gehender Musikcocktail. Der Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann, der eine kurze Solopartie als Kellner meistert) gibt sich gewohnt stimmgewaltig. Die Rolle von Molinas Mutter ist bei Michaela Wehrum in sensitiven Händen, das gilt auch für die Marta von Eun Mi Suk.

Die Kostüme (José-Manuel Vázquez) sind mal schlicht, mal prächtig. Das Gitterstäbebühnenbild mitsamt Zellengeviert ist eines der funktionalsten, das Lukas Noll je erfunden hat. Seine bezaubernden Prospekte in den Traumsequenzen entführen in eine andere Welt. Das Spinnennetz mit Stacheldraht im zweiten Durchgang bildet mitsamt der vom Schnürboden herabschwebenden Berner einen Höhepunkt des Abends.

Miville hat gut daran getan, die Sprechrollen mit Schauspielern zu besetzen, auch wenn Wärter Harald Pfeiffer nur herumschreien darf. Petra Soltau als eiskalte Gefängnisdirektorin (im Original ist es ein Direktor) verkörpert ihre Partie mit cooler, stoischer Ruhe. Die Regisseurin hat das Männergefängnis in eine gemischte Anstalt verwandelt, was der Monotonie entgegenwirkt. Das variable Licht (Kati Moritz) macht den inhaltlichen Facettenreichtum mit seinem Hin und Her zwischen Folter und Fantasie zum besonderen Erlebnis.

Das Manko des Stücks: sein tiefernster Inhalt mit Todesfolge. Hier der Knast, dort Molinas Traumsequenzen, gespeist aus Hollywood-Filmen der 30er und 40er Jahre. Sie sind Gedankenflucht und vermeintlicher Rettungsanker vor der grausamen Realität. Der schwule Molina ist in dieser nicht näher umrissenen Diktatur klischeebeladen gezeichnet, die altbackenen Witzchen auf Kosten der Homosexuellen bleiben bei Lichte betrachtet im Halse stecken. Auch Revoluzzer Valentin findet erst am Ende aus dem Tapferkeitseinerlei heraus.

Diese widersprüchliche Kombination dürfte der Grund sein, weshalb das Musical, das 1992 preisgekrönte Erstaufführung feierte, bei uns selten auf die Bühne kommt. In Gießen gelingt die Gratwanderung zwischen bitterem Ernst und trällerndem Humor durchaus. Unbedingt ansehen!

Manfred Merz, 09.12.2014, Gießener Allgemeine Zeitung