Hauptmanns »Die Ratten« zum Start der neuen Spielzeit - Gießener Allgemeine Zeitung

15.09.2014

Dass Gerhart Hauptmann in »Die Ratten« Dialekt sprechen lässt, macht zur Charakterisierung der Figuren Sinn. Dass bei der Inszenierung der Tragikomödie im Stadttheater Gießen weite Teile wegen des »Berlinerischen« aber nicht zu verstehen sind, ist hingegen ein Ärgernis.


Im schwachen Licht der Straßenlaternen stehen die Menschen auf einem dunklen Parkplatz. Verloren wirken sie in dieser von Bühnenbildner Heiko Mönnich mit großer Klarheit entworfenen Kulisse, die ihr ganz privates Elend schonungslos zur Schau stellt. Auch wenn Vögel als Lichtprojektionen über der Szenerie schweben: So frei wie diese Tiere können sich die Menschen nicht bewegen. Sie sind ihrem Schicksal in wirtschaftlich schwierigen Zeiten erbarmungslos ausgeliefert – aber auch ihren individuellen Schwächen.

Die Idee von Regisseur Thomas Goritzki, die Bewohner des Berliner Mietshauses in Hauptmanns »Die Ratten« aus ihren Wohnungen herauszuholen und sie stattdessen auf dem kalten Asphalt des Parkplatzes agieren zu lassen, ist durchaus schlüssig. Dass die Arbeiterfamilie, die abgehalfterten Theaterleute, die Kleinkriminellen und Drogensüchtigen in ihrer eigenen Sprache sprechen auch. Aber dass immer dann, wenn »berlinert« wird, weite Teile der Dialoge nicht zu verstehen sind, trübt diesen Premierenabend im Großen Haus doch enorm. »Durch den Dialekt bekommt das Herz manchmal Flügel«, wird der Regisseur im Programmheft zitiert. Doch in diesem Fall erweist sich die extrem modifizierte Sprache als klares Manko einer ansonsten durchaus anregenden und straffen Inszenierung.

Hauptmann, der ja selbst kein Berliner war, lässt seine Figuren mit jeweils eigenem Zungenschlag sprechen. Doch seine »Berliner« Texte oder das schlesische Kauderwelsch würden so in Wirklichkeit nicht gesprochen. Hinzu kommt, dass keiner der Schauspieler im jeweiligen Dialekt seiner Figur zu Hause ist, und – leider – der ein oder andere auch undeutlich artikuliert. Vor diesem Hintergrund wird es für die Zuschauer enorm schwierig, dem auf der Bühne Gesprochenen im Detail zu folgen.

Schade, denn die Regie zeigt ansonsten Hauptmanns Klassiker als das, was seine Stärke ausmacht: als zeitlos gültiges Stück voller Aktualität, das locker die Brücke schlägt zwischen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und der Gegenwart.

Auch in Zeiten von Eizellenspenden und Leihmüttern kennt man solche Frauen wie die Maurersgattin Jette John, die alles tun würden, um das Kind einer Anderen ihr eigenes nennen zu können. Auch heute noch gibt es aber auch Frauen wie das Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, die ungewollt schwanger werden. Und obwohl ein uneheliches Kind längst nicht mehr als Makel gilt, werden immer wieder Neugeborene ausgesetzt oder gar getötet.

Frau Johns Ganovenbruder Bruno klettert symbolträchtig aus der Unterwelt durch den Gullideckel des Parkplatzes heraus und rastet beim Versuch, das Dienstmädchen im Auftrag seiner Schwester einzuschüchtern, aus und mordet – auch solche Typen wird es immer geben. Und selbst im kleinstädtischen Milieu gehören zerschundene Kreaturen wie die Säuferin Sidonie Knobbe längst zum Stadtbild. Und weil der »gesellschaftliche Tsunami der Perspektivlosigkeit« (Goritzki) die »oben« und die »unten« gleichgemacht hat, kann man sie alle nebeneinander auf einem öffentlichen Platz gegen ihren weiteren Untergang kämpfen lassen.

Mit Frau John, die das Kind des Dienstmädchens als ihr Eigenes ausgibt und sich mit tragischem Ausgang in einem Geflecht aus Lügen und Irrsinn verstrickt, gibt Beatrice Boca ihren Einstand als neues Mitglied des Schauspielensembles. Ihre Frau John ist keine Figur, die Empathie weckt. Wutausbrüche und Hetztiraden wirken abstoßend. Die vom Tod ihres ersten Kindes aus der Bahn Geworfene lässt einen als Zuschauer merkwürdig kalt – auch weil weite Teile ihres Sprechens nicht zu verstehen sind. Wenn
Boca aber kurz vor Jettes Selbstmord am Boden sitzt und mit gespenstischer Ruhe deren ganze Verzweiflung deutlich macht, dann bekommt man eine Ahnung davon, dass von dieser Schauspielerin, wenn sie erst einmal den Hemmschuh des kruden Dialekts abstreifen kann, noch viel zu erwarten ist.

Auch Anne-Elise Minettis ansonsten grandiose Darstellung der von allen betrogenen und wie eine Löwin um ihr Kind kämpfenden Pauline krankt an dem schlesischen Kauderwelsch dieser Figur. Maximilian Schmidt, wie Boca neu im Ensemble, kann als Mordbube Bruno einen recht präsenten Eindruck hinterlassen – mehr aber auch nicht angesichts der Kürze der Auftritte.

Überraschung des Abends ist Carolin Weber, die die Drogensüchtige Sidonie spielt, deren todgeweihtes Kind Frau John gegenüber Pauline als deren Nachwuchs ausgibt. So hat man Weber noch nicht erlebt. Wie ein Geist entsteigt sie mit strähnigem Haar und krätzigem Hautausschlag der Abfalltonne, schabt sich im Schritt, »uriniert« schamlos auf die Bühne und macht klar: Tiefer kann diese Sidonie kaum noch sinken.

Roman Kurtz als ehemaligem Theaterdirektor Hassenreuter gelingt es, gemeinsam mit Roman Pešl, der den leicht hölzernen Schauspielschüler Spitta gibt, die komischen Momente der Tragikomödie zu zelebrieren: in der berühmten Szene, in der die beiden darüber streiten, welche Art des Theaters und der Kunst nun die richtige sei, aber auch beim frivolen Stelldichein Hassenreuters mit der österreichischen Liebschaft (Marie-Luise Gutteck). Und Harald Pfeifer punktet als über Schauspielerambitionen spöttelnder Quaquaro. Petra Soltau als nach Luft schnappende Direktorengattin und Mirjam Sommer als deren reichlich verhuscht wirkendes Töchterchen Walpurga liefern in ihren Nebenrollen solides Spiel. Lukas Goldbach verkörpert glaubhaft den herzlosen Maurer John, in dessen Welt Kinder nicht sterben, sondern »eingehen«. Simone Müller mimt Knobbes vernachlässigte Tochter.

Und am Ende stehen wieder alle auf dem Parkplatz im Schein der Laternen. Doch diesmal blicken sie empor zu Frau John, die ihrem Leben ein Ende setzen will und aus dem Fenster springt. Doch weil man das auf der Bühne nicht wirklich zeigen kann, fällt mit lautem Knall ein undefinierbares, an Nachgeburt erinnerndes Objekt den Schauspielern vor die Füße. Spektakuläres Finale eines durchwachsenen Abends.

Karola Schepp, 15.09.2014, Gießener Allgemeine Zeitung