Hier wird nicht Beckett, sondern Mozart gespielt - Gießener Anzeiger

30.09.2014

„Entführung aus dem Serail“ mit hinreißenden Gesangssolisten

 „Bassa Selim lebe lang“, jubelt am Ende der Janitscharenchor hoch über den Köpfen der Zuschauer, und das Publikum jubelt mit. Nach über zweieinhalbstündiger Aufführung ist Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ am Samstagabend vom Premierenpublikum im voll besetzten Stadttheater mit lang anhaltendem Applaus und Bravorufen gefeiert worden. Die hinreißenden Gesangssolisten und das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter lassen das Wunderwerk an Wohlklang und musikalischer Schönheit voll erblühen. Einen heftigen Kontrast dazu bietet die betont sachliche Inszenierung von Benjamin Schad, der auf jegliches orientalisch-exotisches Kolorit verzichtet. Das Stück büßt dadurch einen erheblichen Teil seines Zaubers ein. Im Mittelpunkt steht nun ein Seelendrama in einer eintönigen Umgebung.

„Hier soll ich dich denn sehen“, singt Belmonte zu Beginn, und dabei liegt die Betonung auf „hier“, in der sich all seine Verwunderung über diesen merkwürdigen Ort ausdrückt. Er und die Zuschauer blicken zunächst nur auf einen quer über die Bühne gezogenen Vorhang (Bühne: Stephan Rinke), auf dem im Schattenspiel allerlei Luxusgüter vorüberziehen, die dem mächtigen Herrn dieses Ortes gehören: Pferde, Segelboot, Hubschrauber, Flugzeug. Man sieht aber auch Vogelkäfige wie die von Papageno aus der „Zauberflöte“. Aber im Unterschied zu Papagenos Käfige sind keine seltenen Vögel drin, sondern Menschen.

Leerer Raum

Wenn sich der Vorhang öffnet, zeigt sich der Ort des Geschehens für die nächsten Stunden: ein kahler, rundum holzvertäfelter Raum wie der Veranstaltungssaal einer Gastwirtschaft. Hier könnte man Beckett oder Sartre spielen. Der Regisseur stellt die Figuren in den leeren Raum, damit sie ihr Seelenleben, ihre Ängste und Gefühle, ausleben. Und dies geschieht in einer düsteren, beklemmenden Atmosphäre.

Entwicklungsgeschichte

Während andere Regisseure gerne zeigen, dass sich Konstanze und Blonde am Hofe des Bassa Selim gut eingelebt haben und sich in ihrer Gefangenschaft gar nicht so unwohl fühlen, ist die Stimmung bei Schad gedrückt. Eine Aura des Unheimlichen und Geheimnisvollen umgibt Bassa Selim, dargestellt von dem Tänzerpaar Osvaldo Ventriglia/Paula Rosolen, der auf Zehenspitzen durchs Haus schleicht.

Wie in einem Entwicklungsroman erzählt uns der Regisseur die Geschichte einer Liebe: So fürchtet Konstanze, dem Werben des Bassa zu erliegen. Und während sie von Liebe und Treue zu Belmonte singt, lässt der sie umgarnende Tänzer keinen Zweifel daran, dass Bassa von ihrer Seele längst Besitz genommen hat. Sie fühlt sich wie im Rachen eines Krokodils („Martern aller Arten“). Andererseits hat sie sich durch die Zeit in der Isolation auch von Belmonte entfernt. So halten beide beim ersten Wiedersehen deutlich Abstand, als trenne sie eine Schranke. Von verliebter Innigkeit, wie sie die Musik gerade in diesem Augenblick in den süßesten Tönen malt, ist nichts zu spüren. Freudentränen fließen jedenfalls keine. Erst nach dem misslungenen Fluchtversuch und vom Tode bedroht, finden die Verliebten zueinander.

Schöner Mozartton

Frisch, feinnervig und sehr klar im Klangbild fegt die Musik aus dem Orchestergraben die Bühnenlangeweile weg. Agil und elanvoll dirigierend beweist Hofstetter Stilsicherheit und viel Gefühl für den Mozartton. In der transparenten Wiedergabe stechen die farbigen Klangkombinationen, die reiche Instrumentation und nicht zuletzt die effektvollen, türkischen Schlaginstrumente hervor.

Ein guter Einfall ist es, den Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann) vom ersten und zweiten Rang des Zuschauerraums singen zu lassen. Das verstärkt den Eindruck, mittendrin zu sein. Als Konstanze bringt die amerikanische Sängerin Sara Hershkowitz souverän die Höhen- und Koloratursicherheit einer Königin der Nacht mit. Mit bewundernswerter, scheinbar müheloser Leichtigkeit meistert sie die schwierige Partie. Und die Bravourarie „Martern aller Arten“ singt sie mit soviel Ausdruck und Finesse, dass es eine Freude ist ihr zuzuhören.

Was die Koloraturen angeht, muss sich die junge, aus Halle stammende Sopranistin Marie Friederike Schöder als Blonde keineswegs verstecken. Sie verfügt über eine bewegliche Stimme, besitzt Anmut, Charme und setzt als ausdrucksstarke Darstellerin Bedeutungsschwerpunkte.

Strahlender Belmonte

Daniel Johannsen ist ein Belmonte, wie man ihn sich nur wünschen kann. Sein schöner lyrischer, weit ausstrahlender Tenor ist einfach hinreißend und voller Glut. Wenn er „O wie ängstlich“ singt, geht Mozartliebhabern das Herz auf. Pedrillo und Osmin sind zwar weitgehend ihres Buffo-Charakters beraubt, doch zwei Vollblutdarsteller wie Torsten Hofmann (Pedrillo) und Calin Valentin Cozma gelingt es doch, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Hofmann tut dies mit seinem hell timbrierten, wohlklingenden Tenor, Cozma mit seinem stimmgewaltigen, voluminösen Bass, der seine Feinde erzittern lässt.

Thomas Schmitz-Albohn, 29.09.2014, Gießener Anzeiger