»Im Satz des Pythagoras« im Stadttheater uraufgeführt - Gießener Allgemeine Zeitung

14.10.2014

Die Faszination für den ersten vorchristlichen Philosophen Pythagoras bewegt den Gießener Ballettdirektor schon lange. Nun hat er daraus ein fulminantes Stück gemacht, dessen Uraufführung am Sonntagabend im Stadttheater gefeiert wurde.

Die Stundenuhr läuft, digital versteht sich, also mit sichtbaren Zahlen, ununterbrochen über beinahe das gesamte neue Tanzstück von Tarek Assam hinweg. Die Faszination für den ersten vorchristlichen Philosophen Pythagoras bewegt den Gießener Ballettdirektor schon lange. »Jemand, der schon vor 2500 Jahren die Idee hatte, dass unser Leben auf der Basis von Zahlen erklärbar sein müsste – das ist unvergleichlich weit vorausschauend gewesen. Denn wo stehen wir heute? Unsere ganze Welt beruht auf Berechnungen, ohne sie gäbe es kaum eine Wissenschaft, keine Computer.«

Wer kennt ihn nicht, den »Satz des Pythagoras«, der besagt »a2 + b2 = c2«. Er bezieht sich auf ein geometrisches Problem, doch ermöglicht er darüberhinaus gehende philosophische Fragestellungen. In dieser frühen Zeit, etwa 500 vor Christus, wurde Mathematik mit Mystik und Zahlensymbolik gedacht, überhaupt mit dem gesamten Universum. Und Pythagoras soll einer der wenigen gewesen sein, der »Sphärenmusik« auch als Erwachsener noch hören konnte; die nach damaliger Vorstellung aus der Bewegung der Gestirne entstand.

Wie wird nun daraus ein Tanzstück? Linie, Dreieck und Quadrat kommen vor, im Schattenwurf auf dem Boden, in Linien allenthalben, auch in den Fragen der Philosophen, die auf Sitzleitern über den Tanzenden thronen und deren Bemühen beobachten, eine Antwort mittels Körperbewegungen zu geben. Was meistens nicht klappt. Die Positionen werden gewechselt, jeder versucht sich im Fragen und in den Tanzantworten. Da wird heftig kommentiert, diskutiert und es kommt auch so manch ironische Frage (auf Englisch): »Wisst ihr überhaupt, was ein Dreieck ist? Haltet ihr das für eine Linie?« Und einer tanzt immer aus der Reihe. Soviel ist klar: Eindeutige Antworten gibt es nicht.

Natürlich gibt es Zahlen(kolonnen) und geometrische Grundformen auch im Bühnenbild, das wieder Fred Pommerehn erdacht hat, der gebürtige Amerikaner, der schon lange in Berlin lebt und schon häufiger mit Assam zusammengearbeitet hat. Sein Bühnenbild beeindruckt mit einer variationsreichen Schlichtheit, hinter der hoher technischer Aufwand steckt, und prägt den gesamten Tanzabend. Unterstützt wird es von der fabelhaften Lichtregie von Kati Moritz. Für die monochrom grau-silbrigen Kostüme im bequemen Alltagslook war wieder Gabriele Kortmann (Berlin) zuständig.

Zu sehen sind abwechselnd ein weiter Sternenhimmel, das Universum verbildlichend, lange Leuchtstäbe, die Parallelen im Raum zeigen, und wenn sie sich treffen zu Dreiecks- und Quadratformen werden. Dann sind da noch die unablässig sich verändernden Zahlenkolonnen im Dezimalsystem, die auch für Computerberechnungen stehen.

Musik als Auftragsarbeit

Dazu kommen vereinzelt Videoeinspielungen, die im Bio-Motion-Labor der Sportwissenschaftler an der Uni Gießen gedreht wurden, mit denen Assam schon mehrfach kooperierte. Deren Konzept ist es, den sich bewegenden Körper von Sportlern zu messen, um sie zu optimieren. Für den Tanz nutzt Assam die Sichtbarmachung der Bewegung in Punkten und Vektoren als ästhetisches Pendant zum Tanz auf der Bühne. Dies wird insbesondere von Michael Bronczkowski in unendlich scheinenden Wiederholungen vorgeführt.

Auch die Musik ist nicht alltäglich, sie bewegt sich zwischen sphärischem Klangteppich, fröhlich stimmenden Pianoklängen und dramatisch akzentuierenden Streichern. Sie enthält ebenso klassische wie Pop-Elemente und erinnert häufiger an Filmmusiken. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit an das junge Komponistenduo Piano Particles aus Stuttgart. Das sind Steffen Wick, der für Orchesterkomposition und Pianospiel, und Simon Detel, der für Sounddesign und Live-Elektronik zuständig ist. Wick ist im übrigen Meisterschüler von Moritz Eggert, der im vergangenen Jahr die Komposition für das TCG-Stück »Der Blick des Raben« schuf; auch Eggerts Musik zeichnete sich durch die Kompilation verschiedener Musikgenres aus.

Piano Particles interessieren sich für Musik, die Grenzen zu anderen Kunstformen überschreitet, sie haben schon bei anderen Tanzabenden mitgewirkt und performen ihre Stücke selbst. Auch in Gießen sitzen sie im Orchestergraben. Den Kontakt zu Assam stellte der Gießener Generalmusikdirektor Michael Hofstetter her, der die Uraufführung auch dirigierte. Für ihn sei besonders spannend, wie er vorab sagte, dass damit am Gießener Theater erstmals bei einer Live-Aufführung die Kombination von Orchestermusik und elektronischer Musik umgesetzt wird. Auch die Instrumentenauswahl ist ungewöhnlich: Schlagwerk, Streicher, Klarinette und Harfe des Philharmonischen Orchesters wirken noch mit.

Neben all den beteiligten Kreativköpfen steht im Zentrum die 13-köpfige Tanzcompagnie, die trotz ihrer teilweisen Erneuerung eine geschlossene Ensembleleistung bot. Seit sechs Wochen neu dabei sind: Agnieszka Sara Jachym, Kristina Norri, William Banks, Alberto Terribile und Valentin Thuet. Es gibt viele Szenen in Dreier- und Vierergruppen, bei denen die Suche nach dem Dreieck oder dem Quadrat im Zentrum steht, in Gruppenszenen wird eher die Linie, mathematisch gesprochen die Gerade, gesucht.

Es gibt berührende Pas de trois: zu Beginn mit Bronczkowkski, Endre Schumicki und Mamiko Sakurai, später mit den Tänzerinnen Caitlin-Rae Crook, Jennifer Ruof und Magdalena Stoyanova, und da sind zauberhafte Pas de deux, etwa von Krautwurst und der federleicht springende Mamiko Sakurai, von Schumicki und Yuki Kobayashi, deren Ausdruckskraft sich stetig steigert, oder das rein männlich besetzte Duo gegen Ende, Bronczkowski und Terribile mit kraftvoller Dynamik. Eine ausgesprochen witzige Szene spielt im Orbit, wo ein Raumschiff namens A2 in feindliche Gefilde gerät, weil die Dreiecksberechnung falsch gelaufen ist. Bronczkowkski kann hier als Towerman seine Komikerseite ausspielen.

Insgesamt ist es ein geradezu hypnotischer Abend, der in all seinen Komponenten bei einem einzigen Besuch gar nicht zu erfassen ist. Aber es gibt ja noch mehrere Aufführungen, also nicht verpassen.

Dagmar Klein, 14.10.2014, Gießener Allgemeine Zeitung