Jubel für Donizetti-Oper im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

02.02.2015

Jubel, Trubel, Bravorufe. Die Premiere der Oper »Linda di Chamounix« im Großen Haus wurde am Samstag vom Publikum gefeiert. Spielfreudige Sänger, ein gut aufgelegtes Orchester und das treffende Bühnenbild sprechen für sich. Doch ganz so einfach ist es nicht.


Bisweilen gibt es Gründe, weshalb eine Oper in Vergessenheit gerät. Womöglich ist sie zu üppig, zu gedrechselt oder einfach nur beliebig. Gleichwohl haben es solche Raritäten dem Stadttheater angetan. Der nach dieser Spielzeit aus Gießen scheidende Operndirektor Dieter Senft förderte in Goldgräberlaune so manche Trouvaille ans Licht, etwa »Lo schiavo« von Gomes, lag in seiner Auswahl aber auch hin und wieder daneben.

Gaetano Donizetti jedenfalls macht nicht süchtig. Dem fleißigen Komponisten gelang zu Lebzeiten zwar das Kunststück, die führende Position unter den italienischen Tondichtern des Opernfachs einzunehmen. Doch das lag vermutlich daran, dass Bellini verstarb, Rossini sich zur Ruhe setzte und Verdi noch zum Nachwuchs gehörte.

Donizettis Spätwerk, die hierzulande unbekannte Oper »Linda di Chamounix« aus dem Jahr 1842 – der Komponist erlag 1848 den Folgen einer Syphilis-Infektion –, rauschte am Samstagabend als Premiere im Belcanto-Fach unter der musikalischen Leitung von Florian Ziemen und in der Inszenierung von Hans Walter Richter bejubelt durchs ausverkaufte Große Haus.

Der Komponist erweist sich darin als Meister der musikalischen Pause. Arien und Duette werden stellenweise a cappella gesungen oder mit einem kleinen Pizzicato hinterlegt, wahlweise gibt es Akkordbegleitung. Orchestermotive in Pendelbewegungen und Arpeggien in den Streichern sowie im Holz zeugen von jenem italienischen Esprit, den das Schreiben von bis zu vier Opern im Jahr mit sich bringt. Die musikalische Schonkost schlägt niemandem auf den Magen, satt macht sie jedoch nicht.

Und das wohlige Gefühl nach dem Genuss? Vergessen wir’s. Obwohl die Verantwortlichen in Gießen bei der Partitur den Rotstift ansetzten und Wiederholungen strichen, hat das Werk Längen.

Die Kantilenen der Sänger sind geschmeidig, aber die Musik muss ohne Ohrwurm auskommen. Lindas Parade-Arie »O luce di quest’anima« hat Donizetti, wohl wissend um die Luftigkeit seiner Partitur, eigens für eine Pariser Fassung hinzukomponiert, und das »No, non è ver, mentirono«, bei dem die Heldin dem Wahnsinn verfällt, machen die Rolle für jede Koloratursopranistin zum Aushängeschild. Naroa Intxausti meistert die Partitur mit Leichtigkeit und Strahlkraft. Ihre Stimme hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt. Intxausti verfügt über eine seidige Mittellage und feine Schärfe in den stets sauberen Spitzen.

Tomi Wendt gibt einen irren Marchese. Mit Puder im Gesicht und im Sonnenkönig-Outfit steckt er als grinsender Johnny Depp alle anderen mimisch in den Sack. Stimmlich reiht er sich ein ins Solide der übrigen Solisten (Cozmin Sime, Calin Valentin Cozma, Michaela Wehrum und Vepkhia Tsiklauri), aus dem Leonardo Ferrando als Carlo mit seinem biegsamen Tenor voller Schmelz und Adel heraussticht. Perfekt ist Sofia Pavone in der Hosenrolle des Pierotto.

Weniger perfekt gelang der erste Akt. Divergenzen bei den Tempi zwischen Sängern und Orchester sowie ein verpatzter Einsatz des Tenors zeugen von Nervosität am Premierenabend. Nach der Pause war davon nichts mehr zu spüren. Ziemen hielt sein Philharmonisches Orchester auf Kurs, hatte die Lautstärke im Griff und arbeitete die wenigen Höhepunkte trefflich heraus. Das Harmonium als leitmotivische Pierotto-Zutat erfüllte seinen Zweck. Der Percussionist, der im ersten Akt die Becken bediente, hat sich ob der Fülle seines Einsatzes Schmerzensgeld verdient. Die Chorpartien meisterten der Chor und Extrachor des Stadttheaters unter der Leitung von Jan Hoffmann sowie der von Martin Gärtner einstudierte Kinder- und Jugendchor.

Richters Inszenierung kann sich sehen lassen. Seine erste Arbeit fürs Große Haus in Gießen gelang dem Regieassistent der Frankfurter Oper mit Bravour. Einprägsame Charaktere, unprätentiöse Personenführung und eine bis ins Detail ausgelotete Sicht der Dinge – die junge Linda verliert ihre Unschuld, wie ihr Blut beschmiertes weißes Unterkleid bekundet – kennzeichnen sein Werk. Der Humor ist pointiert, auch wenn mancher Einfall den tragischen Inhalt konterkariert, etwa das Rückwärtsstolzieren des Papas direkt in den geöffneten und als Refugium dienenden Schrank hinein, als seine Tochter vom Wahnsinn befallen wird.

Das stupende Bühnenbild samt Kostümen von Ausstatter Bernhard Niechotz weckt hohe Erwartungen. Sie werden erfüllt. Der mit schrägen Wänden gezeichnete vielschichtige Gemeindesaal ist ein Spielplatz der Emotionen. Er darf als Spiegelbild von Lindas Seele verstanden werden: Im ersten Akt noch wohlgeordnet und sittsam, jedoch mit seinen Schrägen bereits die gefährliche Gratwanderung der Titelheldin kennzeichnend, wird er im Finale zum großen Chaos-Raum. Am Ende schauen Linda und Carlo – aus diesem Raum herausgetreten – in eine womöglich harmonische Zukunft.

Manfred Merz, 01.02.2015, Gießener Allgemeine Zeitung