Krenek in Gießen - Frankfurter Rundschau

21.05.2015

Aus einer neuen, bösen Zeit


Frisches aus untergegangenen Welten: Die deutsche Erstaufführung von Ernst Kreneks Satire mit Musik „Kehraus um St. Stephan“ am Stadttheater Gießen.
Ernst Kreneks Zwischenkriegs-Oper „Kehraus um St. Stephan“ ist ein wenig aus der Zeit gefallen und hat darum, für die deutsche Erstaufführung im Stadttheater Gießen, von Bühnenbildner Lucas Noll einen vergoldeten Rahmen bekommen. Darin sieht man anfangs einen abgestorbenen Baum auf einer Höhe des Wienerwaldes mit Blick auf die Stadt in der Ferne. Auf den Kopf gestellt, erscheint dieses Idyll dann als Horizontprospekt.


Die Inszenierung tut keine Sekunde lang so, als sei das Stück etwas anderes als ein museales Gebilde. Fertiggestellt 1930, wurde es vor der Uraufführung in Leipzig aus dem Spielplan genommen und erst 1990 in Wien uraufgeführt; seither hat es nur in Bregenz und Luzern weitere Aufführungen gegeben. Im Gießener Bühnen-Passepartout entsteht eine selbst längst untergegangene Welt des post-feudalen Wiener Untergehens nach dem Ersten Weltkrieg. Kreneks Libretto entwirft eine Revue der Nachkriegs-Gesellschaft, des allgemeinen Geworfenseins in eine neue, böse Zeit. Schicksalslinien adliger, bürgerlicher und bäuerlicher Existenzen mäandern zwischen Nachkriegsgewinnlertum und Kakanien-Nostalgie.


Ein korrupter Arbeiterführer
Verkörperung des guten Alten ist der Winzer und Heurigen-Wirt Kundrather, krasseste Inkarnation des bösen Neuen der Berliner Kapitalist Kabulke, der schon von künftigen Kriegen redet, während alles noch unter den Folgen des letzten leidet. Ansätze einer Revolution versanden stümperhaft, der Arbeiterführer ist korrupt, der Fabrikant Koppreiter entschlossen, „mit frischer Kraft ans alte Werk“ zu gehen. Krenek hat sein Werk eine „Satire mit Musik“ genannt und später die Gattungsbezeichnung „Volksstück“ gewählt, was auf die Horváth-Atmosphäre auf der Bühne verweist.
Hans Hollmann, dessen praktisches Wissen um das deutsche Theater weit in die Vergangenheit zurück reicht, hat für seine Gießener Inszenierung eine behutsame Aufteilung des polystilistischen Stückes in drei Handlungsebenen vorgenommen, die er auch räumlich markiert. Die Szenen, die bei einer rüderen Herangehensweise wild durcheinander purzeln könnten, hat er mit milden Eingriffen ineinander verschränkt, sanfte Überleitungs-Maßnahmen wirken wie Kniegelenke und lassen gar manchmal den Eindruck einer konsistenten Erzählung entstehen.


Das Werk hat insgesamt neun Hauptpartien, die in Gießen allesamt ausgezeichnet besetzt sind. Die beiden guten Menschen des Stückes, die skrupulös-opportunistische Elisabeth Torregiani und der deprimierte Ex-Offizier Othmar Brandstetter, werden opernhaft und kompetent von Heike Susanne Daum auf die Bühne gebracht. Naroa Intxausti als Maria und Martin Berner als Brachial-Industrieller Koppreiter sowie Wilfried Staber als Wienerwald-Winzer Kundrather agieren gekonnt operettenhaft. Durchgängig wird textverständlich gesungen, was bei der verschlungenen Handlung wichtig ist – trotz synchroner Texteinblendung.


Auch im reichhaltigen Nebenpersonal sind keine Schwächen erkennbar, und der Chor (Leitung: Jan Hoffmann, der auch als dekadenter Tangosänger auftritt) arbeitet dramatisch effektvoll und präzise, wo immer er eingesetzt wird: als revolutionär gestimmtes Proletariat, als Medienkonsumentenschar, die nach Skandalen und Miss-Vienna-Wahlen geifert, oder auch als Illustrationsmaterial mit Schweinemasken.


Von großer Qualität ist die Musikalische Leitung Florian Ziemens. Das Philharmonische Orchester Gießen gestaltet unter seiner Leitung das schnelle Umschaltspiel der Partitur, den fliegenden Wechsel der Idiome und die diffizile Dynamik ausgezeichnet und bleibt gerade deshalb doch unverdient unauffällig.


Frankfurter Rundschau, 20. Mai 2015, Hans-Jürgen Linke