»Langer Atem« mit FUX im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

09.03.2015

»Das Leben ist wie Klopapier – lang und für’n Arsch«, singt der Chor. Na ja, ganz so schlimm ist es dann wohl doch nicht. Jedenfalls zeigt das Theaterkollektiv FUX im Stadttheater mit seiner Stückentwicklung »Langer Atem«, dass es sich lohnt, das Leben in all seinen Facetten sinnlich wahrzunehmen.


Die Männer und Frauen in leblosem Grau und vitalem Rot holen tief Luft und erzählen ihre Geschichten (v. l. Stephan Dorn, Anne-Elise Minetti, Lukas Goldbach, Milan Pešl, Rainer Hustedt, Petra Soltau, Mirjam Sommer und Maximilian Schmidt). (Foto: Wegst)
Ein Schrei, lautes Ein- und Ausatmen im schwachen Licht, auf der Bühne verstreuter Unrat, dann wieder ein Schrei – mehr brauchte Samuel Beckett nicht, um 1969 »Atem«, das kürzeste Theaterstück der Welt, zu schreiben. Das Theaterkollektiv FUX – das sind die Gießener Theaterwissenschaftler Nele Stuhler, Falk Rößler und Stephan Dorn – hat sich auf die Suche nach den (vermeintlichen) Lücken in Becketts Sketch gemacht, um diese Leerstellen mit Menschen und Geschichten zu füllen. Entstanden ist daraus ein 90-minütiger, äußerst unterhaltsamer und kompakter Theaterabend.

Die Stückentwicklung »Langer Atem« hatte am Samstag im ausverkauften Großen Haus des Stadttheaters umjubelte Premiere und traf auf ein Publikum, das sich bereitwillig auf diese für viele neue Theatererfahrung einließ. Zugleich war »Langer Atem« aber auch das erste gemeinsam von Mitgliedern des Universitätsinstituts für Theaterwissenschaften und des Stadttheaters erarbeitete Projekt (Dramaturgie: Björn Mehlig).

Beim Luftholen seien wir alle »routinierte Laien« und das Atmen eine zentrale Metapher für das Leben, plaudern die acht in leblosem Grau und vitalem Rot gekleideten Schauspieler vor dem Vorhang. Becketts Schrei stoßen sie wider Erwarten nicht aus. Stattdessen geben sie sich auf der schräggestellten Bühne dem wissenschaftlichen Dozieren hin – über das Auf und Ab der Handlung in einem Stück, über Auf- und Abschwung in der Wirtschaft, über die 1969 entdeckten »Schwarzen Löcher«, die für ihre Entstehung exakt so lange brauchten, wie Beckett für sein absurdes Stück. Auch dass der Nobelpreisträger »Atem« einst auf Drängen von Kenneth Tynan für dessen Erotik-
revue auf eine Postkarte gekritzelt habe, erfahren die Zuschauer. Das ist zwar interessant, aber nicht wirklich atemberaubend.

Doch was sich in der Folge tut, lässt die Atemfrequenz der Zuschauer steigen – unter anderem auch deshalb, weil FUX ordentlich frischen Wind durch das Theater wehen lassen und dabei fast den gesamten Theaterapparat aufwirbeln. Auch ein »Extraextrachor« (Einstudierung: Martin Gärtner) und ein 17-köpfiges Bläserensemble (Leitung: Florian Ziemen) mischen mit.

Ultimative Komprimierung ist angesagt, wenn die sieben Stadttheaterschauspieler (Anne-Elise Minetti, Lukas Goldbach, Milan Pešl, Rainer Hustedt, Petra Soltau, Mirjam Sommer und Maximilian Schmidt) gemeinsam mit FUX-Mitglied Stephan Dorn wie in einem Kasperle-Theater über die Rampe lugen und Wort für Wort verteilt ihre Texte sprechen. Dass deren Inhalt – ganz im Sinne des Absurden Theaters – viel heiße Luft birgt, ist klar. Es ist das Ritualisierte, das Sinnlose im Sinnlichen, das die Zuschauer den Atem anhalten lässt. Vor Lachen hecheln muss dann so manch einer, als Dorn wie ein Clown die Melodica bläst oder die Akteure mit kleinen Kiecksern auf der schrägen Fläche auf- und abschreiten.

All dies spielt auf dem knappen Streifen schräger Bühne vor dem roten Vorhang. Als der sich endlich hebt, wabert Nebel über die dunkel-karge Szenerie. Nichts tut sich, nur Petra Soltaus sonore Stimme aus dem Off rezitiert Regieanweisungen Becketts, ohne dass diese umgesetzt würden. Es sind vielmehr die poetisch-assoziativen Bilder, die diesen Moment der Bewegungslosigkeit so eindrücklich machen – um kurz danach in einem den Atem raubenden Wortschwall zu ersticken. Am Anfang ist da einer, der seine banale Alltagsgeschichte erzählt. Viele weitere folgen. Es sind die Protagonisten, die Beckett aus seinem »Atem« verbannt hatte, und denen das Theaterkollektiv nun Leben einhaucht. Was die Namenlosen hyperventilierend erzählen, rauscht wie im Sturm an den Zuschauern vorbei. Schnappatmung statt ruhige Atemzüge, kaum ein Luftholen ist möglich – und ein bisschen ist in diesem Moment auch die Luft aus »Langer Atem« raus, das an Anspielungen überreich ist, aber dennoch auch ein bisschen eine Revue mit aneinandergereihten Sketchen bleibt. Das große Ganze – es ist ein Hauch.

Jede Menge Extravaganzen

Doch auch wenn das Ohr ein wenig müde wird, den in Endlosschleife gesprochenen Lebensweisheiten zu lauschen: Das Auge kann sich an sinnlichen Eindrücken weiter erfreuen. Fux haben – gemeinsam mit Lukas Noll (Bühnenbildner des Stadttheaters) und Katharina Sendfeld (freie Kostümbildnerin) ein bis ins kleinste Detail, sogar bis zu den schwarzlackierten Fingernägeln der Protagonisten, perfekt komponiertes Bild geschaffen. Sendfelds Kostüme erinnern an Mode aus jener Zeit, in der Beckett aufgewachsen ist. Röcke, Fräcke und Roben sind in diversen Grauschattierungen gehalten. Knallrote Accessoires setzen kräftige Akzente. So manches wird im Lauf des Spiels aufgeblasen – Haare wachsen, Hintern werden dicker, Gürtel breiter und Schleppen länger. Warum? Das wird nicht wirklich klar.

Ästhetische Extravaganzen erlaubt sich auch der Extraextrachor, der in grauen Gewändern – erst vorne auf der Bühne, dann in einer Art Bühne auf der Bühne ganz weit hinten – singt. »Das Leben ist wie Klopapier, lang und für’n Arsch« oder »Das Leben ist kein Konjunktiv, auch wenn es gut wäre« sind gesungene Weisheiten, über die man nach dem Hören erst einmal nachdenken müsste. Doch Zeit dafür bleibt nicht. Alles wird komprimiert und reduziert – und im Gegenzug blähen sich die Umhänge der Sänger wie gigantische Airbags auf.

»Weniger« oder Mehr«?

Auch die Lungen von Ziemens Bläsern füllen sich. Johann Sebastian Bachs »Musikalisches Opfer« – wie Becketts Stück auf Drängen eines Dritten entstanden – haben sie sich vorgenommen und kreieren daraus auf der sich drehenden Bühne einen atemberaubenden kanonischen Kauderwelsch (Konzeption: Ziemen/Masae Nomura). Als dann auch noch durch den Nebel die sich mit anstrengender Penetranz übertönenden Stimmen der Schauspieler dringen, scheint das aus dem Off klingende Kommando »Weniger« wie eine Erlösung.

Und dann kommt am Ende doch noch Becketts »Atem« auf die Bühne. Stephan Dorn dirigiert die kurze Szene mit der Stoppuhr. Ein kurzer Schrei – und das Publikum kann entspannt durchatmen nach einem ungewöhnlichen, aber ganz und gar nicht »normalen« Theaterabend, wie es FUX eingangs selbstironisch versprochen hatten.

Karola Schepp, 09.03.2015, Gießener Allgemeine Zeitung