Leben in Schieflage - Online Musik Magazin

10.02.2015

Gaetano Donizettis 1842 in Wien uraufgeführte Linda di Chamounix gehörte zwar im 19. Jahrhundert zu den größten Erfolgen des Komponisten aus Bergamo, führt aber seit vielen Jahren ein absolutes Schattendasein, obwohl Donizetti selbst der Meinung war, dass beispielsweise die große Wahnsinnsarie der Titelfigur "No, non è ver, mentirono" am Ende des zweiten Aktes die berühmte Wahnsinnsszene der Lucia "Il dolce suono" aus der auch heute noch häufig aufgeführten Lucia di Lammermoor um einiges übertraf. Dass diese Oper dennoch so selten aufgeführt wird, mag auch daran liegen, dass es sich dabei um ein absolutes Primadonnenstück handelt. So haben sich in den letzten Jahren vor allem Edita Gruberova und Diana Damrau um Neuproduktionen dieser Oper verdient gemacht. Das Stadttheater Gießen, das schon seit vielen Jahren mit Opern-Raritäten des 19. Jahrhunderts auch für überregionales Interesse sorgt, bringt dieses Werk nun erstmals seit über 100 Jahren wieder in Deutschland auf die Bühne, und für die Titelpartie kann man in Gießen mit Naroa Intxausti sogar mit einem Ensemble-Mitglied aufwarten.
Die Handlung spielt in einem kleinen Bergdorf in den Savoyen und in Paris. Der reiche Marchese di Boisfleury bietet Antonio Lustolot an, dessen Tochter Linda in seine Dienste zu nehmen und dafür Chamounix finanziell zu unterstützen. Doch Antonio befürchtet, dass der Marchese unehrenhafte Absichten hat, und beschließt, seine Tochter mit den anderen Kindern über den Winter nach Paris zum Arbeiten zu schicken. Linda ist darüber zunächst nicht begeistert, da sie dann auch den heimlich von ihr geliebten Maler Carlo verlassen muss. Doch bei Carlo handelt es sich gar nicht um einen armen Maler, sondern um den Visconte di Sirval, der Linda in die Großstadt folgt und ihr in Paris eine elegante Wohnung einrichtet. Zunächst ist Linda dort sehr glücklich. Doch dann taucht der Marchese auf und versucht, sie zu verführen. Zwar kann Linda sich ihm widersetzen, doch als sie anschließend erfährt, dass Carlo von seiner Familie verpflichtet worden sei, eine standesgemäße Frau zu heiraten, und dann auch noch ihr Vater auftaucht und sie als Mätresse beschimpft, verfällt sie dem Wahnsinn. Ihr Freund Pierotto bringt sie zurück nach Chamounix, wo ihr scheinbar keiner helfen kann. Erst als Carlo auftaucht und sein Eheversprechen erneuert, kommt sie wieder zur Vernunft, und gemeinsam mit Carlo träumt sie von einer glücklichen Zukunft.
Das Regie-Team um Hans Walter Richter scheint das glückliche Ende dieser recht krude anmutenden Geschichte in Frage zu stellen, was sich sowohl im Bühnenbild von Bernhard Niechotz als auch in der Personenregie äußert. Niechotz hat für das Bergdorf einen asymmetrischen Raum konzipiert, der auf der linken Seite an einen Gemeindesaal mit Kirchenorgel erinnert - auf einer Tafel sind noch die Nummern der Lieder zu lesen, die im Gottesdienst gesungen werden sollen, und über dem Orchestergraben hängt ein großes leuchtendes Kreuz - und auf der rechten Seite wohl Antonios Wohnung darstellt, wobei die Wände in einer seltsamen Schieflage sind. Seltsam ist aber auch, dass Linda häufig durch den Schrank im vorderen Bereich auf- und abtritt. Im Paris-Akt ist dann das Bühnenbild durch einen roten Vorhang verdeckt. Lüster, die aus dem Schnürboden herabhängen, deuten den Prunk der Wohnung in der Großstadt an. Nur der Schrank auf der rechten Seite ist geblieben, in dem erneut Figuren verschwinden. Im dritten Akt sieht dann das Bühnenbild aus dem ersten Akt recht heruntergekommen aus. Ein schneebedeckter Baum scheint durch das Fenster in der Decke herabgestürzt zu sein, die Fenster im Hintergrund sind teilweise zerborsten, Türen aus den Angeln enthoben und auf dem Boden hat sich ein hoher Schneeberg gebildet. Auch die Kinder, die aus der Großstadt ins Dorf zurückkehren, erinnern mit ihren zahlreichen Verletzungen eher an Kriegsheimkehrer.
Bei der Titelfigur hat man den Eindruck, dass die ganze Geschichte eine bloße Wahnvorstellung ist. So tritt ihr geliebter Carlo im ersten Akt durch das Fenster im Bühnenhintergrund auf, wobei das Unwetter bei seinem Auftritt nichts Gutes verheißt. Richter lässt Naroa Intxausti bereits im ersten Akt mit einer geflochtenen Blumenkrone in der Hand nahezu schlafwandlerisch über die Bühne schweben, so dass ihr Verschwinden im Schrank schon an dieser Stelle an ihrem Geisteszustand zweifeln lässt. Im zweiten Akt, wenn sie von ihrer Sehnsucht nach den abwesenden Eltern singt, stehen diese um sie herum, bevor sie ebenfalls im Schrank verschwinden und erst Pierotto, dann der Marchese und schließlich Carlo auftauchen. Ob Linda am Ende wirklich von Carlo aus ihrem Wahn befreit wird oder sich immer noch in einem Traum befindet, lässt Richter offen. Die beiden stehen vor dem schwarzen Vorhang auf einer leeren Bühne. Da wird dem Zuschauer durchaus Interpretationsspielraum gelassen. Ob der Präfekt von Chamounix als Mann der Kirche betrachtet werden muss, ist diskutabel. Nötig ist der Kirchenbezug in der Inszenierung nicht, stört allerdings auch nicht weiter.
Musikalisch beweist Donizetti vor allem im zweiten Akt die Vielfalt seiner Kompositionskunst. Den Anfang macht eine wunderbare Szene zwischen Sofia Pavone als Pierotto und Naroa Intxausti als Linda. Pierotto sucht seine Freundin aus den Bergen auf, und die beiden drücken in einem wunderbar innigen Duett ihre geschwisterlich anmutende Zuneigung zueinander aus. Pavones Mezzo und Intxaustis Sopran gelingt dabei in wunderbar warmer Stimmführung eine unter die Haut gehende Interpretation. Einen ganz anderen Stil weist dann die folgende Szene mit Tomi Wendt als Marchese di Boisfleury aus. Obwohl die Nachstellungen des Marchese bedrohlichen Charakter annehmen, hat die Musik die Leichtigkeit und Komik, die man beispielsweise aus Donizettis L'elisir d'amore kennt. Wendt spielt dabei die komisch angelegte Partie des Marchese mit großem Witz aus. Das anschließende Treffen mit dem Geliebten Carlo erinnert dann wieder an die eher tragischen Werke Donizettis, da hier bereits eingeleitet wird, dass Carlo von Linda Abschied nehmen muss, und die folgende Szene zwischen Linda und ihrem Vater, in der Antonio seine Tochter verstößt, weil er sie für eine Mätresse eines reichen Mannes hält, begeistert durch große Dramatik. Pierottos Ballade "Per sua madre andi una figlia", in der der junge Mann von einem Mädchen erzählt, das von einem reichen Mann betrogen wird, zieht sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Stück und wird von Pavone mit warm-timbriertem Mezzo vorgetragen.
Für die Partie des Carlo ist Leonardo Ferrando an das Stadttheater Gießen zurückgekehrt, der hier bereits als Riccardo in Pacinis Maria Tudor in der Spielzeit 2011/2012 und als Gonzalo in Emilio Arrietas La conquista di Granata in der letzten Spielzeit begeisterte. Auch als Carlo überzeugt er mit einem sauber geführten Tenor, der die Höhen wunderbar trifft. Cozmin Sime gefällt als Lindas Vater Antonio mit weichem Bass, der für die Vaterfigur allerdings noch ein bisschen reifen könnte. Calin Valentin Cozma stattet den Präfekten mit markanten Tiefen aus. Publikumsliebling Tomi Wendt setzt als Marchese mit leicht geführtem Spiel-Bariton die komischen Akzente des Abends. Naroa Intxausti wird der anspruchsvollen Titelpartie mit jugendlich frischem Sopran in jeder Beziehung gerecht. Auch der von Jan Hoffmann einstudierte Chor und Extrachor sowie der von Martin Gärtner einstudierte Kinder- und Jugendchor gefallen sowohl szenisch als auch stimmlich. Das Philharmonische Orchester Gießen rundet unter der Leitung von Florian Ziemen diesen Belcanto-Abend musikalisch überzeugend ab, so dass es für alle Beteiligten lang anhaltenden Applaus gibt.
FAZIT
Auch wenn die Handlung dieser Oper absolut krude ist, bietet das Werk musikalisch einige Perlen, die von den Solisten wunderbar umgesetzt werden. Auch die Regie wird dem Stück gerecht, so dass man sich als Liebhaber von Belcanto-Raritäten diese Aufführung in Gießen nicht entgehen lassen sollte.
Thomas Molke, Online Musik Magazin, 07.02.2015