Linda di Chamounix - Opernglas

03.03.2015

Das kleine aber feine Stadttheater der 78.000-Einwohner-Stadt Gießen beschreibt einen bemerkenswerten und vorbildlichen Weg jenseits ausgetretener Pfade: Dem künstlerischen Team um Intendantin Cathérine Miville gelingt es immer wieder, verborgene Schätze aus dem Bereich des Belcanto auf die Bühne zu bringen – und dies durchweg auf hohem musikalischen und szenischen Niveau.  Als Beispiele der vergangenen Jahre seien unter anderem genannt Gaetano Donizettis 

>>Lucrezia Borgia <<, >>Maria Stuarda<< und >>La Favorita<<, Vincenzo Belinis >>Norma<<, Giovanni Pacinis >>Maria Tudor<< oder Saverio Mercandantes >>Il Giuramento<<. Diesmal fiel die Wahl auf ein Werk, das gewisse Parallelen zu Donizettis wohl berühmtester Oper >>Lucia di Lammermoor<< aufweist. Allerdings hat die 1842 am Theater am Kärntnertor in Wien uraufgeführte >> Linda di Chamounix<< ein glückliches Ende, da Lindas Wahnsinn durch die Rückkehr ihres Geliebten geheilt wird. Die Oper ist gespickt mit zahlreichen herrlichen Melodien und Belcanto-Wohlklang, hat aber von der Handlung her auch sozialkritische Aspekte, wird doch die Armut der Bevölkerung in den Savoyer Bergen deutlich herausgestellt: Viel Eltern mussten ihre Kinder über den Winter zur Arbeit nach Paris schicken, weil sie nicht genügend Geld hatten, um über die Runden zu kommen.

Diese Gesellschaftskritik hat Regisseur Hans Walter Richter in seiner nur auf den ersten Blick konventionellen Inszenierung zu Teil sehr eindringlich herausgearbeitet. Die Gießener Produktion machte so schnell deutlich, dass Donizettis Oper nicht nur aus schönem Gesang besteht. Es verwundert bei ihrer Qualität, dass >>Linda di Chamounix<< in Deutschland seit über 100 Jahren nicht mehr zu sehen gewesen ist. Während Edita Gruberova mit der Rolle in Zürich brilliert hatte und Diana Damrau 2011 damit in Barcelona zu erleben war, war es nun dem Stadttheater Gießen gelungen, diese Oper auch in unseren Breiten wieder zu entdecken, und dieses Unterfangen wurde zu einem vom Publikum enthusiastisch gefeierten Triumph. In der diffizilen Titelpartie beeindruckte die baskische Sopranistin Nora Intxausti mit ihrer variabel und fein eingesetzten Stimme, die selbst in den extremsten Lagen sicher ansprach und stets genau auf dem Atem gebildet wurde. Die Natürlichkeit ihres Spiels spiegelte sich in ihrem Gesang, der aber nicht nur belcantesk, sondern ebenso ausdrucksstark erklang. Die Seelenqualen Lindas, die sich im Zwiespalt zwischen ihren verarmten Eltern und dem Geliebten Carlo, den sie zunächst für einen mittellosen Maler hält, befindet, machte Intxausti nachvollziehbar deutlich. Der aus Uruguay stammende Tenor Leonardo Ferrando sang sich nach leiten Anfangsproblemen schnell frei und nahm nicht zuletzt durch vortreffliche Legatokultur für sich ein. Der Künstler schlug eine feine vokale Klinge, bei welcher die Vorbilder Alfredo Kraus und Juan Diego Flórez schnell herausgehört waren. So wurde die berühmte Arie „Linda, si ritirò - Se tanto in ira agl ´uomini“ zum Höhepunkt der Aufführung, denn Ferrando intonierte wunderbar auf Linie, frei fließend und mit herrlich leicht ansprechender Höhe. Kultivierter, aber zugleich anspruchsvoller Gesang kann ebenso dem aus Rumänien stammenden Bariton Cozmin Sime attestiert werden, der als Lindas Vater Antonio mit feiner vokaler Linienführung und warmen Timbre aufwartete. Antonios Frau Magdalena versah Michaela Wehrum mit geschmeidigem Mezzosopran. Einen großen persönlichen Erfolg konnte die junge deutsch-italienische Mezzosopranistin Sofia Pavone in der Hosenrolle des Pierotto verbuchen. Ihre feinsinnige und bewegliche Stimme führte sie stets sicher fokussiert mit warmen Modulationen. Die Rolle des Präfekten, der in dem Dorf das Sagen hat, wird in dieser Inszenierung zu einem Dorfpfarrer, der durchaus Züge eines russischen Popen aufweist, was allerdings kaum in die Savoyer Berge passt. Dessen ungeachtet gab ihm Calin Valentin Cozma vokale Autorität, ohne dass er es dabei mit polternder Basstiefe übertrieb. Ein Schwachpunkt der Oper ist die musikalische Anlage der Figur des Marchese di Boisfleury, der für das Unglück von Linda verantwortlich ist, da sie wegen seiner Nachstellungen nach Paris geschickt wird. Donizetti hat ihm jedoch in der Tradition des Dulcamara eine reine Buffo-Partie auf den Leib geschrieben, was die Figur zu einer Karikatur werden lässt, die sie von der Handlung her gar nicht sein dürfte. Indem die Regie den Marchese noch mehr überzeichnete und als Witzfigur im Ludwig II.-Outfit darstellte, geriet der ernste Hintergrund der Geschichte gerade im Finale zur Nebensache. Hier hätte man sich überlegen können, die Partie zu streichen oder wenigsten erheblich zu reduzieren, wie dies in früheren Aufführungen in Italien durchaus nicht unüblich gewesen ist. Dessen ungeachtet ging Tomi Wendt in dieser Rolle geradezu auf und bot eine superbe vokale und darstellerische Leistung, die mit großem Applaus bedacht wurde. 

Der Dirigent Florian Ziemen fächerte Donizettis farbige Partitur – einzig die kurz vor der Uraufführung schnell komponierte Ouvertüre fällt dabei durch ihre Holzschnittartigkeit etwas ab – wunderbar auf, entwickelte die Musik organisch aus sich heraus und erwies sich zudem als idealer Sängerbegleiter. Das Philharmonische Orchester Gießen spielte auf hohem Niveau, nuanciert und differenziert. Dynamik und Lautstärke waren stets ausbalanciert. 

Bühne und Kostüm von Bernhard Niechotz verorteten die Handlung nicht wie im Libretto vorgesehen in die Mitte des 18., sondern eher am Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit der Industriellen Revolution, die gerade der Landbevölkerung übel mitgespielt hat. Der erste Akt spielte in einem kombinierten Wohn- und Kirchenhaus, der zweite Akt dann in einer noblen Pariser Wohnung, ehe man im letzten Aufzug wieder das Haus sah, in dem nun alles aus den Fugen geraten war. Im Dach befand sich ein großes Loch, aus dem Baumwurzeln herausragten. Auch in Lindas Leben ist vieles durcheinander geraten. Allerdings erschien der Einfall, dass Linda eine Fehlgeburt erleidet, bei der ihr Pierotto zur Seite steht, doch ein wenig zu plakativ.

L.-E. Gerth, Opernglas, März 2015