Nüchterner Orient - Wetzlarer Neue Zeitung

30.09.2014

Zur Saisoneröffnung ihres Musiktheaters hat sich das Stadttheater Gießen für ein populäres Stück entschieden: "Die Entführung aus dem Serail" von Mozart. Am Samstag war die Premiere.

In Zeiten der Bürger- und Religionskriege im südlichen Mittelmeerraum wären ein paar schillernde Impressionen aus dem Orient verlockend gewesen, doch Regisseur Benjamin Schad wählte eine nüchterne Welt in Schwarz-Weiß: „Wir haben uns bewusst entschieden, auf all diese Phantastereien zu verzichten, um wirklich einen klaren Blick zu ermöglichen: auf die Ängste und Nöte der Menschen, die hier auf der Bühne stehen.“

In klanglicher Farbenpracht erstrahlte dafür die wunderbar leichte Komposition Mozarts unter der musikalischen Leitung von Michael Hofstetter. Dazu tragen auch die „türkischen“ Instrumente bei – Becken, große Trommel, Piccoloflöte und Triangel – sowie die zwei „Janitscharenchöre“. Für ihre beiden effektvollen Auftritte hatten sich die Sängerinnen und Sänger auf den Rängen verteilt: Ein toller Klang, eine gelungene Leistung von Chorleiter Jan Hoffmann. Glanzvoll e Leistungen präsentierten insgesamt Solisten und Symphonisches Orchester, sie wurden dafür mit langanhaltendem Beifall belohnt.

Zum Stück; Belmonte sitzt da, ratlos, rauft sich die Haare. Er sucht seine Konstanze, die mit ihrer Zofe und seinem Bediensteten Pedrillo von Seeräubern in den Orient verschleppt wurde. Daniel Johannsen ist ein glänzender Tenor, in allen Stimmlagen präsent.  Vor dem Haus wacht Osmin (Calin-Valentin Cozma). Mit seinem kräftigen Bass ist er Widerpart zu Belmonte und Pedrillo. Die Arie „Solche hergelaufnen Laffen“  trieft vor Hass und begibt sich in die tiefsten Tonlagen.

Kaum vorstellbar, dass sich der untersetze Predillo (Thomas Hofmann) gegen den großen Osmin durchsetzen kann. Mit seinem lyrischen Tenor ist Hofmann der geeignete Interpret der „Maurischen Romanze“.

Als Konstanze hat Sara Hershkowitz mit der Arie „Martern aller Arten“ eine besondere Herausforderung zu bestehen. Mozart hat sie für die „geläufige Gurgel“ seiner berühmten Konstanze-Sängerin geschrieben.

Ganz in ihrer Rolle geht Marie Friederike Schöder als beherzte Kammerzofe Blonde auf. Doch was ist mit Bassa Selim? Mozart hat ihn als Sprechrolle angelegt, jetzt sind zwei Tänzer (Paula Rosolen und Osvaldo Ventriglia) daraus geworden. Sie sollen wie zwei Engel die Darsteller durch die Handlung führen. Doch das nimmt überhand. Die Liebenden dürfen sich nicht umarmen und küssen, der Engel nimmt vielmehr die Hände und lässt sie Bewegungen ausführen. Zwischenruf aus dem Publikum: „Das scheint hier zur Turnstunde auszuarten.“

Das Bühnenbild (Stephan Rinke, Kostüme Lukas Noll): Kein Garten, kein Orient, dafür eine holzgetäfelte Halle. Die drei Reisenden aus dem Westen sind zweckmäßig weiß gekleidet, Bassa Selim entkleidet sie in der letzten Szene und gibt ihnen schwarze Kleidung. Freilassung um den Preis, dass sie wie Selim zum Islam übertreten? Es darf spekuliert werden, muss aber nicht – das Publikum genießt jedenfalls die wunderbare Musik.

Ursula Hahn-Grimm, 29. September 2014, Wetzlarer Neue Zeitung