Roland Schimmelpfennigs „Der Goldene Drache“ in einer abgründigen Inszenierung im Stadttheater Gießen - Frankfurter Rundsschau

14.01.2015

Manchmal hat das Theater nur einen kleinen Vorsprung. Als kürzlich in einer McDonalds-Filiale in Tokio ein menschlicher Zahn gefunden wurde („Geld zurück gab es dem Bericht zufolge trotzdem nicht“), hatte die Realität Roland Schimmelpfennigs tragische Globalisierungs-Komödie „Der Goldene Drache“ schon eingeholt. Im „Goldenen Drachen“ verblutet ein junger Chinese, der seine Schwester – vergeblich – sucht, nachdem man ihm in der Küche eines Asia-Restaurants sehr rüde einen sehr schlimm schmerzenden Zahn gezogen hat, der Zahn landet nach merkwürdigen Flugbewegungen in der Thai-Suppe („scharf“) einer Stewardess, die von diesem authentischen Stück Menschlichkeit angerührt ist und dem Zahn eine flüchtig rituelle Wasserbestattung angedeihen lässt – an just der Stelle, an der die Asia-Küchenbesatzung den verbluteten Chinesen ebenfalls im Wasser bestattet hat. Parallel wird aus der Fabel von der Grille und der Ameise eine gemeine Zuhältergeschichte, eine unglückliche junge Frau, ein vernagelter junger Mann und etliche weitere Personen, die alle im gleichen Haus wohnen und wenig voneinander wissen, geraten in unverbindliche, schwer verletzende Beziehungen miteinander.

Der tote Chinese aber macht sich auf den viele tausend Kilometer langen Unterwasser-Weg nach Hause, wo er schließlich als knöcherner Rest in einem märchenhaften Happy End ankommt. Ohne seine Schwester.

Dramatische Montagekunst

All das ist so schnell erzählt und so leichtgängig verhakt und verbandelt, dass man Schimmelpfennigs dramatische Montagekunst bewundern muss. Im Stadttheater Gießen ist dieses aktuelle Stücke (Uraufführung 2009) in brechtisch-epischer Form einer sehr flexiblen Gruppe von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern (Anne-Elise Minetti, Carolin Weber, Lukas Goldbach, Pascal Thomas, Roman Kurtz) überlassen, die alle in schnellem Wechsel mehrere Rollen spielen; Marcel Rudert komplettiert als Musiker die Bühnenmannschaft. Alle tragen kleidsam-elegante, durchaus uniforme helle Alltagskleidung (Bühne und Kostüme: Udo Herbster), stellen sich am Anfang namentlich vor und machen daraus ein Verwirrspiel, das in das Stück hinein gleitet.

Malte C. Lachmann, der die Inszenierung verantwortet, hat einige aktualisierende Flapsigkeiten (mit Karikaturen) zugelassen, sich aber ansonsten darauf verlassen, dass das Stück in einer Stadt, die zurzeit so viele internationale Flüchtlinge wie noch nie beherbergt, von selbst seine Wirkung entfalten wird, wenn man nur gewissenhaft damit umgeht. Gewissenhaft aber heißt: leicht, schnell, ironisch, gestisch, karikierend und ein bisschen lässig. Wenn man auf einem schmalen Grat überm Abgrund unterwegs ist, kann man auch lächelnd hinunter schauen.

Jeder in der Bühnen-Seilschaft ist jederzeit bereit, jede Rolle anzunehmen, die Erzählweise erhält dadurch etwas Wunderkerzenhaftes: Bloß kein Drama! Und so geschieht das Widersinnige, dass ein Stück, das von Brutalitäten der Globalisierung handelt und von der fatalen Situation, dass nichts als unzumutbar gilt, wenn man Geld dafür bekommt, wie ein launiger Spaß über die Bühne geht. Es ist dieser von der Inszenierung aufgerissene klaffende Widerspruch, der in den tiefen Abgrund dieses erstaunlichen Stückes blicken lässt.

Hans-Jürgen Linke, 14.01.2015, Frankfurter Rundschau