Roman Kurtz brilliert im taT mit beklemmender Darstellung eines dementen Vaters im Stück „Der Mann der die Welt aß“ - Gießener Anzeiger

27.04.2015

Mit der abgebissenen Zunge fängt es an. Dann verbrennt er sich eine Hand an der Herdplatte. Von da an nimmt der geistige Verfall des Vaters seinen Lauf. Mit einer grandiosen darstellerischen Leistung, die ihm sowohl psychisch als auch physisch einiges abverlangt, zeigt Roman Kurtz in einer packenden Psychostudie, wie die Demenz eines Menschen unaufhörlich und gnadenlos fortschreitet. Es ist eine beklemmende Darstellung in vielerlei Nuancen, die gerade wegen ihrer unpathetischen, nüchternen Art den Zuschauern nahe geht. Schauplatz ist die taT-Studiobühne des Stadttheaters, wo das Stück „Der Mann der die Welt aß“ (ohne Komma) des jungen deutschen Dramatikers Nils-Momme Stockmann (Jahrgang 1981) in der Inszenierung des Gastregisseurs Jakob Fedler am Donnerstagabend Premiere hatte.

Nach gut anderthalbstündiger Aufführung dankte das Publikum allen Beteiligten an diesem so berührend tragischen wie komischen Theaterabend mit lang anhaltendem Applaus, der für Roman Kurtz immer etwas anschwoll. Verdient hat er’s, denn diese Rolle erfordert Mut, sich nicht nur seelisch, sondern auch körperlich vor einem Publikum zu entblößen. Und Kurtz tut es souverän, wenn er sich umständlich die Hose aufknöpft und sich mit der Unterhose den Schweiß von der Stirn wischt. Und wenn er nackt am Boden mit seinem Sohn kämpft und der sich nicht anders zu helfen weiß, als seinen Vater zu schlagen, dann ist dies der Höhepunkt einer Auseinandersetzung, die das ganze Stück durchzieht.

Flausen im Kopf

Im Mittelpunkt steht nämlich eigentlich der Sohn, ein Hallodri mit Flausen im Kopf, der in seinem Leben noch nichts zustande gebracht hat, aber immer von großen Plänen und der großen Freiheit schwafelt. Mit der Pflege des dementen Vaters ist er heillos überfordert. Er schimpft auf die bürgerliche „scheiß Verlässlichkeit“, auf den „Scheiß-Kapitalismus“, schmeißt seinen Job hin, verlässt seine Frau mit den beiden Kindern und streitet sich mit seinem besten Freund. Natürlich geht ihm bald das Geld aus. Jetzt pumpt er alle an, kriecht vor seinem alten Chef auf allen Vieren – doch zu spät. „Alles ist irgendwie scheiße gelaufen“, resümiert seine Ex-Frau Lisa am Ende treffend.

Stockmann wirft in seinem inzwischen auf vielen Bühnen gespielten Erstlingsdrama in knappen Szenen einen Blick auf das Leben von Repräsentanten der Generation 30+. Man macht Bekanntschaft mit alleinstehenden, desillusionierten Menschen, in denen aber noch ein Rest Sehnsucht glimmt.

Regisseur Jakob Felder und Bühnen- und Kostümbildnerin Dorien Thomsen verlegen das Geschehen in einen fast leeren Raum, in den die Zuschauer von zwei gegenüberliegenden Seiten blicken. Eine Wand aus Sperrholz, davor zwei schlichte Bänke und ein dürrer Baum – das genügt. Durch die konsequente Reduktion auf das Wesentliche rücken die Schauspieler und das gesprochene Wort in den Mittelpunkt. Hier bewahrheitet sich der alte Spruch, dass weniger mehr ist. Wenn die Figuren miteinander telefonieren, sieht man kein Telefon oder Smartphone, sondern die Schauspieler stellen sich direkt vor die Zuschauerreihen und sprechen direkt ins Publikum. Mehr Nähe geht nicht. Wenn der Sohn den verängstigten Vater aus dem eingeschlossenen Kleiderschrank befreien will, ist das keine statische Szene, sondern Vater und Sohn jagen in einem wilden Tanz um den Baum herum, wobei der Vater ständig ein Brett zwischen sich und seinem Sohn hält.

Lukas Goldbach spielt den Sohn mit jungenhaftem Elan, macht aber gleichzeitig deutlich, dass dieser Elan ins Leere geht. Dieser Sohn ist nicht unsympathisch, aber völlig planlos und chaotisch. Es wirkt allerdings immer etwas aufgesetzt, wenn er unvermittelt den harten Kerl hervorkehrt und die anderen verletzt.

Unter dieser schroffen Art leidet vor allem seine Ex-Frau Lisa. Alexandra Finder verkörpert sie einfühlsam als zarte, zerbrechliche Frau, die vergeblich ihre erotischen Verführungskünste anwendet, um ihn zurückzugewinnen. Verletzt ist auch sein gutmütiger Jugendfreund Ulf; in dieser Rolle steigt Pascal Thomas sogar die Zornesröte wegen der unwirschen Angriffe ins Gesicht. Maximilian Schmidt beleuchtet das eher schlichte Gemüt des asthmakranken Bruders Philipp.

Thomas Schmitz-Albohn, 25.04.2015, Gießener Anzeiger