Tanzabend »Spieluhr« tickt im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

16.02.2015

Drei Choreografen, drei Stücke. Der Tanzabend »Spieluhr« hat es in sich. Die Premiere zeigt eine Hommage an Altmeister William Forsythe, den Umgang mit modernen Technologien und den Versuch, Erinnerungen festzuhalten. Das Publikum feiert die Aufführung begeistert.


»Das war ein geiler Abend. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.« So lautete einer der begeisterten Kommentare nach der Uraufführung der dreiteiligen Choreografie »Spieluhr« am Samstag im Stadttheater. Gießens Ballettdirektor Tarek Assam hatte bislang mehrfach mit einem Gastchoreografen gemeinsam an einem Tanzstück gearbeitet. Diesmal war es anders. Jeder der drei Choreografen realisierte ein eigenes Stück – jeweils mit den insgesamt zwölf Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen. Die Tänzer und Tänzerinnen meisterten ihre Aufgabe mit Bravour, was auch der begeisterte, nicht enden wollende Schlussapplaus zeigte.

Dem Bühnen- und Kostümbildner des Stadttheaters, Lukas Noll, gelang das Kunststück in enger Absprache mit den Choreografen, Bühnenbilder zu entwerfen, die prägnant und doch in kurzer Zeit auf- und abzubauen sind. Auch in den Kostümen werden die unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen mehr als deutlich: Beim Post-Neoklassiker Pascal Touzeau sind es körperbetonte durchscheinende Trikots, bei dem vom Contemporary Dance und Kampfsportarten geprägten Newcomer James Wilton sind es schlichte Overalls, sie sich nur in der Farbe unterscheiden. Bei beiden Gastchoreografen herrscht also Uniformität in der Erscheinung der Tänzer, ob männlich oder weiblich ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Beide wählten den schwarzen Bühnenraum mit einem hell schimmernden Fußboden
und stimmungsvollen Lichteffekten. Es war bei beiden ein Tanz aus dem Dunkel – und doch konnte dieser unterschiedlicher kaum sein.

Beide lassen sich von der jeweils ausgewählten Musik inspirieren und leiten. Touzeau, zuletzt Ballettdirektor am Staatstheater Mainz, wählte ein Streichquartett von Gavin Bryars, mit dem ihn persönliche Erinnerungen an seine Anfangszeit 1991 als Tänzer beim Ballett Frankfurt verbinden. Er bezeichnet seine aktuelle Arbeit »Legends« als »Hommage an meinen Lehrmeister William Forsythe«. Dessen Repertoire ist deutlich zu erkennen, in den geschmeidigen Binnenbewegungen der Körper ebenso wie in den Gruppenarrangements im Raum. Allerdings unterscheidet sich Touzeau wesentlich in seinem Drang zur Ästhetisierung. Touzeau erzählt nicht, er zeigt perfekte tänzerische Abstraktion. Ihm kommt es auf den Gesamteindruck und die Stimmung an und die ist träumerisch. Dennoch stechen einzelne Tänzer hervor, vor allem den beiden Asiatinnen Yuki Kobayashi und Mamiko Sakurai ist das Klassische auf den Leib geschrieben, überraschend auch die leichte Eleganz bei den kräftig gebauten Endre Schumicki und Michael Bronczkowski.

Choreograf Wilton nutzt die Musik eines anderen Briten: den rockigen Elektrosound von Steven Wilson, der in den 90ern bekannt wurde mit seiner Band Porcupine Tree. Sein Surroundsound erfüllte das ehrwürdige Theater. Es sind die zivilisationskritische Liedtexte, die den Choreografen aus Südengland schon lange bewegen, die er nun für seine Gießener Produktion »COG« (Cognitivity) nutzt. Seine Frage: Wie sehr prägen die neuen Technologien die Heranwachsenden, die nur noch an Computern und Smartphones sitzen und die direkte Kommunikation verlernen? Wilton geht die Antwort behutsam an, lässt anfangs zwei Tänzer eine Tänzerin (Magdalena Stoyanova) schützend wieder auf die Beine bringen. Sie erlernt die Bewegungen neu, schaut den anderen staunend zu, ahmt nach.

Fotos aus Kindheitstagen

Am Ende beherrscht sie das Spiel so perfekt, dass sie die anderen wie an magischen Fäden hin- und herbewegt. Das Tempo pendelt zwischen besinnlichem Stillstand und plötzlichem Wechsel zu pausenlos hämmernden Metal-Riffs. Das abschließende Solo von Stoyanova ist ergreifend, wie so oft bei der erfahrenen Tänzerin. Und von der Lichtinszenierung fühlt man sich verzaubert wie einst als Kind vom strahlenden Weihnachtsbaum.

Assam ist seiner ursprünglichen Idee zum Thema »Spieluhr« treu geblieben, wie sein Titel »Small memories« zeigt und was optisch deutlich wird in den projizierten Fotos aus Kindheitstagen. Die Frage, ob Erinnerung einen Ort hat, beantwortet er stellvertretend mit dem Foto eines Gießener Abbruchhauses, das die Bühnenrückwand ausfüllt. Auf der Bühne steht ein Häuschen, das mit der Aufschrift »Photoautomat« für die Versuche der Menschen steht, Erinnerung festzuhalten, und bringt lustige Einblicke. Es steht auch für die Macht darüber, wer wie lange hinein darf, und für den Kampf um diese Macht (Sven Krautwurst/Alberto Terribile). Assams siebenköpfige Gruppe ist vom Kostüm her im Alltag verortet und eindeutig als männlich oder weiblich erkennbar. Krautwurst glänzt als Anzugträger in einem bodennahen und sprungstarken Solo, in mehreren Pas de deux mit Stoyanova und Caitlin-Rae Crook. Die Dreier- und Vierergruppen sind in komplexe Bewegungsmuster verstrickt, doch die Begegnungen sind nur von kurzer Dauer.

Dagmar Klein, 16.02.2014, Gießener Allgemeine Zeitung