Tarek Assam und Robert Przybyl zeigen „Smart Reality“ im taT - Gießener Anzeiger

22.12.2014

„Smart Reality“. In der Tat: coole Klamotten, die angesagtesten Frisuren und was zum modernen Styling noch unbedingt dazugehört, die aktuellsten Smartphones. Mit diesen modischen Accessoires ausgestattet, eilen vier Tänzerinnen und zwei Tänzer der Tanzcompagnie Gießen geschäftig über die Bühne des taT. „Smart Reality“ lautet der Titel des jüngsten Tanzabends von Tarek Assam, diesmal in Kooperation mit Robert Przybyl. Bühne und Kostüme dieser modischen Glitzerwelt hatte Bernhard Niechotz entworfen. Klingeltöne in allen Höhen und Lautstärken runden den Eindruck aus der digitalen Medienwelt ab.

Kurz angemerkt sei, dass kein einziges Handy in materieller Form auf der Bühne auftaucht, die Benutzung der kleinen Wunderdinger lässt sich durch Gesten und Tanz wunderbar simulieren.

Sechs Menschen also, die sich lebhaft unterhalten, nicht miteinander, sondern jeder Einzelne plappert in sein Gerät. Menschliche Kommunikation unter veränderten Vorzeichen, das ändert auch im Zusammenleben vieles. Mehr Tempo, mehr Hektik, auch mehr Aggressionen. Lauter Situationen, die sich tagtäglich im Alltag beobachten lassen. Warum brüllt diese Frau beispielsweise so laut in ihr Handy, sodass alle im näheren und weiteren Umkreis ihr Gespräch mit anhören müssen? Und dieses ewige Gedaddele kann einem schon lange auf den Geist gehen. Selfies? Das ist für viele sowieso das Letzte.

Schau doch mal meine schönen Fotos an. Hier siehst du? Und plötzlich ist der menschliche Kontakt wieder da. Aus Solotänzern werden Paare oder Gruppen, die sich gegenseitig anziehen oder abstoßen, doch im Mittelpunkt steht immer das Smartphone. Dazu hatten die Tänzer und ihre beiden Leiter sowie Dramaturgin Johanna Milz viele kreative Einfälle. Zur Musik von Greg Haines, Metronomy, Thomas Newman und Orbital wird das Leben im Zeichen der digitalen Technik auf der Bühne nachempfunden. „Im Netz kann ich Held oder Prinzessin sein, wann immer ich will. Im Netz kann ich mir ein neues Profil geben, wann immer ich will. Aber im Netz bin ich immer erreichbar, auch wenn ich nicht will“, sagt Johanna Milz. Der Tanzcompagnie gelingt es, dieses Gespaltensein intensiv darzustellen. Dies betrifft Individuen ebenso wie eine ganze Gesellschaft, bei der sich durchaus schon Formen der Schizophrenie äußern. Aus den Menschen werden schließlich Computer und kleine Roboter, die sich ruckartig im Takt des Techno-Sounds bewegen.

Sven Krautwurst und Agnieszka Jachym sind ein Liebespaar, das sich durch ihre Smartphones näherkommt, gleich darauf aber wieder entzweit wird. Die Tänzerinnen Caitlin-Rae Crook, Agnieszka Jachym, Yuki Kobayashi und Kristina Norri geben spielerisch die Teenager, die ihre modischen Errungenschaften bewundern und neiden. Dann wieder sind sie coole Geschäftsfrauen, die unbeirrt, das Smartphone am Ohr, ihren Weg gehen. Umgarnt werden sie von Michael Bronczkowski, der sich geschickt in die Kommunikation der medialen Partner einfügt.

Die Tänzer und Tänzerinnen zeigen ausnahmslos beste Leistungen, und neben den vier bewährten Kräften sind die beiden jungen Neuzugänge Agnieszka Jachym und Kristina Norri eine positive Überraschung.

Eine Geschichte im traditionellen Sinn wurde bei diesem Tanzabend nicht erzählt, vielmehr folgten einzelne Episoden aus unserer bunten Medienwelt aufeinander. Diese Medienwelt trat in unterschiedlichster Form in Erscheinung. Werden die Smartphones und Laptops nur „virtuell“ dargestellt, so sind die Fernseher doch höchst real in verschiedenen Ecken der Bühnen aufeinandergestapelt, was ebenfalls wieder besondere Möglichkeiten der tänzerischen Auseinandersetzung bietet, von Caitlin-Rae Crook beispielhaft präsentiert. An den variablen drei Segeln, die als Bühnenbild dienen, sind diverse Videofilme zu sehen. Zum Schluss auch unbekleidete Körper der Tänzer. Die Massage von müden Muskeln eines nach einer Vorstellung erschöpften Tänzers kann nur hier in der Wirklichkeit stattfinden, aber (noch) nicht in einer Smart Reality, so sieht es die Dramaturgin.

Das Publikum jedenfalls war äußerst angetan und bekundete sein Gefallen mit begeistertem Applaus.

Ursula Hahn-Grimm, 22.12.2014, Gießener Anzeiger