Tragik und Witz in einer kleinen Küche - Oberhessische Presse

14.01.2015

Im März 2012 hatte Roland Schimmelpfennigs „Der Goldene Drache“ am Hessischen Landestheater Premiere. Jetzt spielt das Stadttheater Gießen das eigenwillige und spannende Stück.

Gießen. „Der Goldene Drache“ ist nicht nur Theaterstück, sondern tatsächlich auch der Name von zahlreichen Thai- und Chinarestaurants im deutschsprachigen Raum. Nach einem Besuch des gleichnamigen Stückes werden die Besucher wohl erst einmal vorsichtig sein beim Genuss von asiatischen Spezialitäten, besonders bei der Thai-Suppe mit Hühnerfleisch, Kokosmilch, Thai-Ingwer, Tomaten, Champignons, Zitronengras und Zitrusblättern (scharf).

In dem Theaterstück liegt auf dem Boden des Suppentellers ein blutiger Zahn: der Schlüssel zum gesamten Drama von Roland Schimmelpfennig, das am Wochenende im Großen Haus des Stadttheaters Gießen Premiere feierte. Was da zunächst wohl geordnet auf großer Bühne beginnt, wird im Lauf von 90 Minuten gewaltig an Dichte und Emotionen zunehmen. Das Schauspiel ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie auch mit scheinbar geringen Mitteln die größte Wirkung erreicht werden kann.

Jeder Schauspieler nimmt mehrere Rollen ein

Dank des großartigen Zusammenspiels der fünf Schauspieler und der Phantasie der Zuschauer steht bald der ganze Mikrokosmos eines Mehrfamilienhauses inklusive Asia-Restaurant mitten im Stadttheater Gießen. Am Ende Betroffenheit bei den Zuschauern, großer Applaus für die Darsteller sowie für Regisseur Malte C. Lachmann und Udo Herbster (Bühne und Kostüme).

Insgesamt 43 kurze Szenen weist das Drama auf, lose aneinandergereiht und dennoch in engem Zusammenhang. Gleich in der ersten Szene stellen sich die Schauspieler vor: jeder übernimmt gleich mehrere Rollen. Zum Beispiel spielt Pascal Thomas den Großvater, eine Asiatin sowie die Grille während Anne-Elise Minetti den Mann mit dem gestreiften Hemd und einen Asiaten mit Zahnschmerzen spielt.

Weiterhin beteiligt sind Carolin Weber (die Enkeltochter, eine Asiatin die Ameise, der Lebensmittelhändler), Lukas Goldbach (die Frau in dem roten Kleid, ein Asiate, die erste Flugbegleiterin), und Roman Kurtz (ein junger Mann, ein Asiate, eine Flugbegleiterin). Männer spielen Frauen, Junge spielen Alte und so fort. Der Gießener Musiker Marcel Rudert schließlich sorgt mit Banjo und Gong, Keyboard und E-Gitarre stimmungsvoll für den musikalischen Hintergrund.

Drehbühne betont Flüchtigkeit der Begegnungen

Was passiert in dem Mikrokosmos? Fünf Chinesen arbeiten in der engen Küche des „Goldenen Drachen“, sie alle sind illegale Einwanderer. Einer von ihnen hat einen kariösen Zahn, der Kollege holt ihn mit der Rohrzange heraus, der junge Chinese verblutet bald darauf.

Doch bis es so weit kommt, zieht das Leben in dem Mehrfamilienhaus an den Zuschauern vorbei. Am Stadttheater Gießen wird die Drehbühne zu Hilfe genommen, um den kurzen Charakter der Szenen und die Flüchtigkeit der Begegnungen zu betonen. Da sind die zwei Stewardessen, die ebenfalls im Haus wohnen und häufig in dem Restaurant essen. Eine von den beiden findet den blutigen Zahn in ihrer Suppe und wirft ihn anschließend in den Fluss.

Im Dachgeschoss wohnt ein junges Paar, das sich über eine ungewollte Schwangerschaft entzweit und dann gibt es auch noch den Lebensmittelhändler, der die Fabel von der hungrigen Grille und der geschäftstüchtigen Ameise mit seinem betrunkenen Mitbewohner zur blutigen Realität werden lässt. Dabei ist die Fabel so poetisch angelegt und in Gießen mit einem Marionettenspiel märchenhaft umgesetzt, das böse Ende der erzwungenen Prostitution eingeschlossen.

Das Schicksal von Migranten im Großstadtdschungel

Der Lebensmittelhändler, der Großvater mit seiner Enkelin, das junge Paar, alle leben nebeneinander, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Ein Preis der Anonymität der Großstadt. Doch im Mittelpunkt des Geschehens steht das Schicksal der illegal eingewanderten Köche, ohne Rechte, ohne Krankenversicherung: Die Chinesen als Beispiel Tausender von Migranten und Flüchtlinge, die im Dschungel der Großstädte oft gar nicht mehr wahrgenommen werden.

Roland Schimmelpfennig, meistgespielter Gegenwartsautor in Deutschland, verwebt diese verschiedenen Handlungsstränge sehr geschickt, viele witzige Situationen und Wortspiele eingeschlossen. Die Inszenierung von Malte C. Lachmann hebt die kompositorischen Kniffe noch einmal hervor.

Am Ende schwimmt der kleine Chinese als Toter in seine Heimat zurück. So erzählt er es dem Publikum. Um ganz Russland herum und dann den gelben Fluss hinauf. Seine Schwester, wegen der er sich eigentlich auf den Weg machte, hat er nicht gefunden.

Ursula Hahn-Grimm, Oberhessische Presse