Über den Kopf gewachsen: Theaterstück über Demenz - Gießener Allgemeine Zeitung

27.04.2015

Es ist ein bisschen wie bei »Warten auf Godot«: ein Baum, zwei Bänke, Ausharren. Bis das Telefon zum ersten Mal klingelt. Es dauert eine Weile, bis Jakob Fedlers Inszenierung von »Der Mann der die Welt aß« in Schwung kommt – aber dann kracht’s ganz gewaltig.

Als Nis-Momme Stockmanns Stück im Dezember 2009 am Theater Heidelberg uraufgeführt wurde und zuvor bereits zwei Preise kassiert hatte, wurde der damals 28-Jährige sofort als Shootingstar unter den Nachwuchsdramatikern gehandelt. Inzwischen arbeitet er als Hausautor beim Schauspiel Frankfurt. Sein Debüt aber wurde seitdem auf zahlreichen Bühnen gezeigt und hat nun endlich auch den Weg nach Gießen auf die taT-Studiobühne gefunden.

Es ist ein starkes Stück Theater, in dem sich der junge Autor mit einem Thema auseinandersetzt, das unsere Gesellschaft in Zukunft noch mehr beschäftigen wird: die zunehmende Demenz vieler Alten und die Verantwortung der Kinder für ihre Eltern. Dabei findet Stockmann, der auf Föhr geboren wurde und szenisches Schreiben in Berlin studierte, eine griffige Form für den heiklen Stoff, der einen zusehends packt und gefangen nimmt – auch dank der grandiosen darstellerischen Leistung von Roman Kurtz als dementer Vater.

Es läuft nicht wirklich rund für den Sohn: Job weg, Frau und Kinder weg, und ein Vater, der sich merkwürdig benimmt und schließlich bei ihm Unterschlupf sucht. Vieles wird dabei am Telefon verhandelt: Der Vater beißt sich während des Schlafs ein Stückchen Zunge ab, Ex-Frau Lisa fordert Unterhalt und Aufmerksamkeit für die gemeinsamen Kinder, der jüngere Bruder hält sich aus allem heraus und Freund Ulf versagt die gewünschte finanzielle Unterstützung, paktiert stattdessen mit Lisa. Das hat zu Anfang seine Längen, wenn Regisseur Fedler die Betroffenen ihre Texte frontal ins Publikum sprechen lässt, das wie bei einem Fußballspiel in zwei Hälften links und rechts auf Tribünen sitzt.

Doch dann kommt Bewegung in die Spielfläche. Der naturalistische Baum von Dorien Thomsen nimmt dabei eine wichtige Rolle ein: Er wird umtanzt, umarmt, bietet Halt bei der Rast am See, wohin es den Sohn mit seinem Freund und dem Vater immer wieder hinzieht – schon allein ob der alten Zeiten willen. Aber die erhoffte Entspannung will irgendwie nicht einkehren, dem Sohn wachsen die Probleme über den Kopf.

Dabei lässt sich Lukas Goldbach erst einmal nicht aus der Ruhe bringen. Sein Mittdreißiger will die neue Freiheit genießen, träumt von der Selbstständigkeit, verhält sich egoistisch und kann doch schließlich vor der Realität die Augen nicht verschließen. Der Konflikt spitzt sich zu und findet seinen absoluten Höhepunkt, als der Vater sich im Kleiderschrank einschließt und er danach von seinem wütenden Sohn verprügelt wird – erschreckender Ausdruck höchster Hilflosigkeit.

Wie Roman Kurtz sich nach und nach in diesen dementen Vater verwandelt, ist ergreifend, berührend und beängstigend zugleich. Wenn er schweißgebadet an den Knöpfen seiner Weste fingert, nur mit Mühe den Reißverschluss seiner Hose öffnen kann und schließlich – lediglich mit einem Nachthemd bekleidet – die Bank, die ihm als Bettstatt dient, lautstark auseinandernimmt, führt Kurtz drastisch vor, wohin einen diese Krankheit bringt. Das macht Angst und den Zuschauer atemlos.

Alexandra Finder findet für die vom Leben enttäuschte Lisa erstaunliche Töne und Körperhaltungen. Pascal Thomas beschützt sie als Ulf, so gut wie er kann – nur zögerlich setzt er sich gegen seinen Freund zu Wehr. Maximilian Schmidt gibt als jüngerer Bruder Philipp den herrlich Unbedarften. Der von allen Unterschätzte ist es, der am Ende für eine faustdicke Überraschung sorgt. Raffiniert der Einfall des Regisseurs, alle drei den Vorgesetzten Bogensee sprechen zu lassen. Das steigert die Macht des Chefs über seinen ehemaligen Angestellten, der um Wiederanstellung bettelt, ins Skurrile.

Marion Schwarzmann, 24.04.2015, Gießener Allgemeine Zeitung