Verborgene Kräfte der menschlichen Seele - Gießener Anzeiger

16.02.2015

Einmal aufgezogen tanzt eine Ballerina zu immer demselben Lied ihre fest vorgegebenen Bahnen. Mal angenommen, dass menschliches Leben im übertragenen Sinne genau so funktioniert: Woher stammen diese Bahnen? Das ist die höchst spannende Frage, die die Choreografen Pascal Touzeau, Tarek Assam und James Wilton in ihrem Tanzabend „Spieluhr“ zum Thema machen. Am Samstag war Uraufführung des aus drei kurzen Tanzstücken bestehenden Tanz-Triptychons im Stadttheater. Am Ende gab es geradezu frenetischen Applaus für zwei Stunden intelligenter Tanzkunst auf allerhöchstem Niveau.

Damit zurück zur Ausgangsfrage, die man so pointieren könnte: Welche verborgenen Kräfte sind dafür verantwortlich, dass Menschen sich so verhalten wie sie sich verhalten? Assam und seine beiden Gäste machen diese Kräfte sichtbar und geben unterschiedliche Antworten. Touzeau stellt den Traum in den Mittelpunkt, der heimische Ballettdirektor das Erinnern und Wilton zwischenmenschliche Beziehungen. Mit „Legends“ macht Touzeau den Anfang.

Schon rein bühnenoptisch sorgt Lukas Noll für eine traumhafte Atmosphäre. Denn auf fast nackter Rampe setzt er auf wenige große Scheinwerfer, die die ganz in Schwarz gekleideten Tänzer ins Zwielicht tauchen. So entsteht ein Klima, das das Surreale des menschlichen Traums geradezu famos visualisiert. In diesem Dämmerlicht wendet sich Touzeau den unbewussten Motiven menschlichen Handelns zu. Was man vorab wissen muss: In den Handlungen der Träume geben sich des Nachts beispielsweise Gefühle wie vielleicht eine große Liebe zu Person X zu erkennen, die immer Einfluss haben, tagsüber aber aus moralischen Gründen ins Unbewusste verdrängt werden. Nachts im Traum werden sie in kurzen gleichnisartigen Handlungssequenzen sichtbar, und Touzeau gelingt es geradezu famos, diese Bildhaftigkeit des Traumes auf Bühne zu bringen. Denn in surrealer Traumatmosphäre übersetzt er die in den Handlungssequenzen des Traumes dargestellten und tagsüber unbewussten Gefühle wie etwa unmögliche Liebe in eine wuchtige und kraftvolle Bewegungssprache, die praktisch reine Emotionen mit viel Expressivität auf die Bühne bringt und schon Assoziationen zum Expressionismus weckt. Kurz, zu Musik von Gavin Bryars machen die Tänzer gekonnt deutlich, dass in Träumen erkennbare unbewusste Motive eine der vorgegebenen Bahnen menschlichen Handelns sind.

Eine andere sind nach Tarek Assam die Erinnerungen. Sie stehen im Zentrum seiner Choreografie „Small Memories“ für die Noll wiederum ein imposantes Bühnenbild geschaffen hat. Denn den Hintergrund markiert das Foto eines baufälligen Gießener Hauses, vor dem eine Fotobox platziert ist. Das ist die Folie, vor der die mit Straßenkleidung bekleideten Tänzer mit viel Schwung und Temperament Szenen von Annäherung, Zurückweisung oder Konflikt ertanzen. Sie enden damit, dass einer der Beteiligten in der Fotobox verschwindet, sodass die vorangegangene Interaktion symbolisch sehr schön als Erinnerung greifbar wird. Sie markieren eine weitere vorgegebene Bahn menschlichen Handelns, zu denen Wilton als Dritter im Bunde zwischenmenschlichen Beziehungen fügt.

Allerdings nicht irgendwelche. Ausgangspunkt der Choreografie „COG“ ist eine dreiköpfige Familie, in die die virtuelle Realität sozialer Netzwerke bricht. Erneut hat Noll die Rampe fast leer gelassen, um nur auf einen ausgefeilten Lichteinsatz zu setzen. Und auf einfarbige Kostüme, in denen die Tänzer zu rockigen Klängen von Steven Wilson und der Band „Porcupine Tree“ mit ordentlich Dampf Konsequenzen der Netzwerkrealität ertanzen wie etwa radikale Vereinsamung. Die Form zwischenmenschlicher Beziehungen wird zu einer weiteren vorgegebenen Bahn menschlichen Handelns.

Kurzum, Assam und seinen Gästen gelingt es geradezu brillant zu verdeutlichen, wie verborgene Motive menschliches Handeln beeinflussen. Um im Bild der Spieluhr zu bleiben: Unbewusste Gefühle, Erinnerungen und die Form zwischenmenschlicher Beziehungen sind die Ursachen dafür, dass die Ballerina zum selben Lied in fest vorgegebenen Bahnen tanzt.

Dass der Abend vom Premierenpublikum derart begeistert gefeiert wurde, hatte natürlich auch maßgeblich mit den Akteuren der Tanzcompagnie Caitlin-Rae Crook, Agnieszka Jachym, Yuki Kobayashi, Kristina Norri, Jennifer Ruof, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, William Banks, Michael Bronczkowski, Endré Schumicky, Alberto Terribile, Yago Catalinas Heredia und Sven Krautwurst zu tun, die sich erneut deutlich auf Champions-League-Niveau bewegten. Kurzum, ein intelligentes Feuerwerk der Tanzkunst, dass sich Theaterfreunde nicht entgehen lassen sollten.

 

Stephan Scholz, 16.02.2014, Gießener Anzeiger