»Verwirrungen des Zöglings Törless« auf der Studiobühne - Gießener Allgemeine

05.11.2013

Abdul M. Kunze inszeniert im TiL »Die Verwirrungen des Zöglings Törless« nach Robert Musil als unter die Haut gehenden Theaterabend.

»Ein gewisser Grad an Ausschweifung ist männlich«, meint Internatszögling Reiting und rechtfertigt damit so manche Gemeinheit. Gemeinsam mit seinem »Freund« Beineberg quält und missbraucht er den beim Diebstahl überführten Mitschüler Basini und gemeinsam machen die beiden Sadisten den jungen naiven Törless zu ihrem Mitwisser – ein Jüngling, der in diesem Milieu von Sex und Gewalt seine schlechten Charakterseiten kennenlernt und mit der Situation heillos überfordert ist.

Abdul M. Kunze hat den 1906 erschienenen Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törless« in der Theaterfassung von Thomas Birkmeir nun auf die Studiobühne gebracht. Die Besucher der Premiere erlebten einen Theaterabend, der mit drastischen Bildern und einem bestens aufeinander eingestellten Quartett von vier Schauspielern das Gefühl hinterließ, direkt in die schwarze Seele des Bösen geblickt zu haben.

Finster ist es in den Köpfen der Täter, und finster ist es auch auf der von Lukas Noll entworfenen TiL-Bühne. Nur große Fabriklampen fokussieren Licht auf die Protagonisten. Diaprojektoren werfen die Silhouetten der vier Jungen als Schattenrisse an die Wand. In einer Vitrine – die Szenen spielen schließlich auf dem Dachboden einer Schule – werden ausgestopfte Marder aus dem Biologieunterricht zur Schau gestellt. Die Exponate sind seelenlos, so wie die vier jungen Männer im Alter des Übergangs vom Kind zum Mann, die fernab der Gemeinschaft ihr grausames Spiel treiben.

Vom »Führen« und »Folgen« spricht Reiting. Pascal Thomas spielt den jungen Mann, der zum Tyrannen geboren scheint, mit offensichtlichem Abscheu vor dem Menschen im Allgemeinen und Mitschüler Basini im Besonderen. Wenn er mit dem von Lukas Goldbach devot-fatalistisch interpretierten Basini hinter der Vitrine zum befohlenen Sex verschwindet, dann erleben dies die Zuschauer zum Glück nur akustisch mit. Doch die so erzeugten Bilder im Kopf wird man so schnell nicht wieder los. Kann sich Basini dem makabren Spiel und den auf offener Bühne dargestellten Folterszenen nicht entziehen? Will er sogar ein Stück weit diese Quälerei, um seinen homoerotischen Neigungen nachgehen zu können? Weder ein »Ja« noch ein »Nein« auf diese Fragen sind befriedigend.

Den jungen Törless spielt Milan Pešl. Doch weil es sich nicht um ein reines Jugendlichendrama handelt, sondern um eine zeitlose Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt an sich, findet auch er als eigentlich erwachsener Darsteller in der jungen Schauspielerquadriga den passenden Platz. Sein Törless ist »charakterlos« im Sinne von unentwickelt, sein verwirrtes Mittun aus Neugier Zeichen der Unreife. Dass er im Bühnenstück mit »ss« statt dem Musilschen »ß« geschrieben wird, mag als zaghafte Andeutung auf die Interpretation von Musils Roman als Voraussage des Faschismus gedeutet werden. Dass Törless, wie Basini am Ende als Erzähler dem Publikum berichtet, doch noch zum schöngeistigen und friedliebenden Menschen wird, kann da nur bedingt versöhnen. Vincenz Türpe schließlich zeigt als seinen Sadismus mit indisch angehauchter Privatphilosophie kichernd rechtfertigender Beineberg, dass er die Klaviatur des Bösen mit feinem Gespür für das Fiese zu spielen versteht.

Kunze, für den der »Törless« offenbar schon seit Langem eine Herzensangelegenheit ist, hat eine ungemein intensive Inszenierung vorgelegt. Vergewaltigungsszenen im Bühnenhintergrund und Folter auf offener Bühne – durch die Studiobühnenenge besonders unmittelbar mitzuverfolgen – sind wahrlich harter Stoff. Die andauernde Finsternis tut das Übrige dazu, dass sich die Zuschauer kaum entziehen können. Anschauen ist dringend angeraten.


Karola Schepp, 05.11.2012, Gießener Allgemeine Zeitung,