Viel umjubelte Aufführung von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ auf der TiL-Studiobühne - Gießener Anzeiger

27.01.2014

GIESSEN - „Tschick“, benannt nach seinem Helden Andrej Tschichatschow, stieg überraschend zum Bestseller des Jahres 2010 auf. Der Jugendroman von Wolfgang Herrndorf liegt mittlerweile in der 26. Auflage vor. Auch auf den deutschen Bühnen wurde „Tschick“ in der Fassung von Robert Koall zu einem Dauererfolg. Jetzt hat das Stadttheater Gießen den Stoff aufgegriffen und in einer viel umjubelten Aufführung auf der TiL-Studiobühne präsentiert. Die ambitionierten Kunstschaffenden: Abdul M. Kunze (Inszenierung), Bernhard Niechotz (Bühne und Kostüme), Pascal Thomas (Maik) und Vincenz Türpe (Tschick).

Zwei Personen auf einer kargen, von Neonröhren ausgeleuchteten Bühne, die immerhin 90 Minuten lang die Handlung mit Dialogen, Erinnerungen und viel Action in Bewegung halten müssen: Das will schon etwas heißen. Und das gelingt den beiden jungen Schauspielern mit viel darstellerischer Präsenz und Einfühlungsvermögen.

Doch im Gegensatz zum hochdramatischen ersten Kapitel des Buches läuft die Bühnenfassung eher etwas gemächlicher an. Ein schwieriger Part für Pascal Thomas, der den „Langweiler“ Maik Klingenberg geben muss und erst einmal über die zerrüttete Ehe seiner Eltern sinniert: Mutter Alkoholikerin, Vater mit junger Assistentin auf Geschäftsreise. Der 14-Jährige ist in Tatjana verliebt, wird zu seinem großen Kummer aber von ihr nicht zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen.

Da passt es nur zu gut, dass gerade zu Ferienbeginn Tschick mit einem geklauten Lada vor der Tür der elterlichen Villa steht. Eine Glanzrolle für Vincenz Türpe, der den liebenswerten, gleichwohl etwas gewöhnungsbedürftigen jungen Russen mit geradezu entwaffnender Natürlichkeit spielt. Da stimmt alles, vom Gel im Haar bis zu dem leicht russischen Akzent in der Sprache.

Ja, und eigentlich will Maik mit diesem „Assi“ aus der Berliner Hochhaussiedlung nichts zu tun haben, doch dann steigt er doch ins Auto ein. Einmal im Leben kein Langweiler sein, und ab geht es bei diesem abenteuerlichen Roadmovie auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ziel ist die Walachei, obwohl Maik starke Zweifel hat, ob es die Walachei überhaupt in Wirklichkeit gibt oder ob sie nur Teil einer Redewendung ist. Doch Tschick ist sich sicher: Schließlich stammen seine Vorfahren daher. Das Spiel mit Sprache und Begrifflichkeit taucht in immer neuen, oft urkomischen Varianten in Wolfgang Herrndorfs Jugendroman auf. Und von der Lebendigkeit seiner Dialoge profitiert auch das Bühnenstück.

Doch genug der grauen Theorie, denn auf der Bühne wird es jetzt richtig turbulent und nass. Maik bespritzt Tschick mit dem Gartenschlauch, sodass sich dieser erst einmal umziehen muss und zwischendurch nur in Boxershorts da steht. So dauert es nicht lange, bis die Frage auftaucht „Bist du schwul?“ Nein, Maik ist nicht schwul, er ist in Tatjana verliebt, doch bei Tschick sieht das anders aus. Sein Geständnis hält die beiden Jungs aber nicht davon ab, die Reise fortzusetzen und über sexuelle Orientierung, Gott und die Welt zu sprechen.

Natürlich treffen sie unterwegs auch Menschen, und diese Begegnungen werden auf der Studiobühne äußerst fantasievoll umgesetzt. Das Mädchen Isa spielt Pascal Thomas, er muss für die Rollenverwandlung nur zwei Apfelsinen unter den Pullover schieben. Als der durchgeknallte Horst Fricke erscheint Vincenz Türpe in einer alten Uniform auf der Bühne und bezieht in seinen dramatischen Monolog auch einzelne Personen aus dem Publikum ein. Und schon geht es weiter zu Friedemann, dem Jungen auf dem Holzfahrrad und seinen vier Geschwistern, die allesamt durch Marionetten dargestellt werden.

Ein Auto als der wichtigste Ort des Geschehens ist während der gesamten Aufführung nicht zu sehen, nur einmal zwei Scheinwerfer, die sich in der Luft drehen und den finalen Crash andeuten. Statt Karosserie und Lenkrad gibt es aber einen schräg gestellten Bühnenboden, auf dem sich die Darsteller richtig bewegen müssen, sich hinfläzen können, und in dessen Schienen auch Stühle fest eingehakt werden können: viel Spielraum für alle denkbaren Lebenssituationen.

Zum Schluss noch die Gerichtsverhandlung, es geht möglicherweise glimpflich für die Jugendlichen aus, die beide den Unfall überlebt haben. Was traurigerweise für Autor Wolfgang Herrndorf nicht zutrifft: Nach der Diagnose Hirntumor erschoss sich der Schriftsteller am 26. August 2013 in Berlin. Er wurde unter anderem mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2011) und dem Preis der Leipziger Buchmesse (2012) ausgezeichnet.

Von Ursula Hahn-Grimm, 25.01.2014, Gießener Anzeiger