Vom Führen und Folgen - Wetzlarer Neue Zeitung

07.11.2013

Premiere „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ in Gießen


Eine packende und anspruchsvolle Version des Klassikers „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ bot jetzt das Stadttheater Gießen in der Inszenierung von Abdul M. Kunze. Am Ende minutenlanger, begeisterter Applaus, besonders für die vier Schauspieler, die eine wirkliche Glanzleistung präsentiert hatten.
„Es gibt jene, die führen, und jene die folgen. Bist Du Herr oder bist Du Knecht?“, sagt Reiting provozierend zu Törless. Damit ist schon das dramatische Beziehungsgeflecht zwischen den vier Schülern aus Robert Musils berühmter Internatsschule abgesteckt. Zu Beginn ist im Theaterraum alles stockfinster. Törless (Milan Pesl) beginnt zu sprechen. Er fühlt sich einsam im Internat und grübelt stundenlang über die Welt und die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Ein sensibler Heranwachsender, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat. So ist er froh, dass er sich den wilden Kameraden Reiting (Pascal Thomas) und Beineberg (Vincenz Türpe) anschließen kann. Doch als die beiden den jungen Basini (Lukas Goldbach) bei einem Diebstahl erwischen und ihn nicht der Schulleitung melden, sondern selbst in einem geheimen Raum bestrafen wollen, ist Törless erschreckt, wagt es jedoch nicht, gegen die beiden aufzubegehren.
Reiting foltert Basini planmäßig, Beineberg gibt die Misshandlungen als naturwissenschaftliche und psychologische Experimente aus. „Wie weit lässt sich ein Mensch demütigen?“, fragt er. Während Reiting immer wieder zynisch die Philosophie der Stärke propagiert und in schwarzer Uniform wie ein „Herrenmensch“ auftritt, kichert Beineberg wie ein bekiffter Jugendlicher vor sich hin, versucht sich in Yoga-Übungen und spricht ständig von Indien, wo sein Vater vor Jahren im diplomatischen Dienst tätig war. Er will es bei Basini mit Hypnose versuchen, die Seele soll seinen Körper verlassen. Törless schreitet erst gegen Ende gegen die Mitschüler ein.
Von Anfang an ist bei den Übergriffen auch Sexualität im Spiel. Vier junge Männer, bei denen die Hormone verrückt spielen, leben auf engstem Raum im Internat zusammen, weit und breit ist keine Frau in Sicht. Eine derart aufgeladene und schwülstige Szene führt zu Spannungen.
Begeisterter Applaus belohnt die vier Schauspieler
Doch wie lassen sich solche Szenen auf der Bühne darstellen, dass sie einerseits nicht zu harmlos wirken und andererseits nicht zu grausam oder gar „jugendgefährdend“, wie es früher so schön hieß? Das Team um Regisseur Abdul-M. Kunze und Dramaturg Matthias Schubert hat gemeinsam mit Lukas Noll ein ausdrucksstarkes Bühnenbild entworfen. Im hinteren Teil der Bühne steht eine große Vitrine, halb aus Holz und halb aus Glas, in der ausgestopfte Tiere und andere naturwissenschaftliche Exponate zu betrachten sind. Hinter diesem Schrank spielen sich die schlimmsten Szenen ab, wenn Reiting und Beineberg ihre Gürtel gezogen haben. Eine reife schauspielerische Leistung aller vier Akteure, die ein glaubwürdiges Bild der komplexen Charaktere von Robert Musil zeichnen. Das schlichte Bühnenbild hilft, sich in die Atmosphäre des Internats einzufinden. Und schließlich muss das Theaterstück auch politisch verstanden werden. „Es gibt jene, die führen, und jene, die folgen“. Diesen Satz hat Robert Musil 30 Jahre vor der Machtergreifung Hitlers geschrieben. Im Rückblick treibt das dem Zuschauer doch die Gänsehaut über den Nacken.
Dank des besonders herausragenden Einsatzes aller Beteiligten ein Stück, das noch eine gute Weile im Gedächtnis bleiben wird.

Ursula Hahn-Grimm, 06. November 2012, Wetzlarer Neue Zeitung