Vom Scheitern radikaler Zweisamkeit - Gießener Anzeiger

21.10.2014

Es war ein richtig frischer Wind, der bei der Premiere am Sonntagabend durch die taT-Stuiobühne wehte. Denn als deutschsprachige Erstaufführung zeigte Regisseurin Stephanie Kuhlmann dort Knut Vaages und Jon Fosses Oper „Da kommt noch wer“, in einer für das Stadttheater erstellten deutschen Fassung. Und es wäre kaum zu hoch gegriffen, von einer Funken sprühenden Kammeroper zu sprechen, die bis zur letzten Minute richtig Laune macht.

Kein Wunder, dass es am Ende kräftigen Applaus für diese Inszenierung gab, die mit triefender Ironie daherkommt und Assoziationen zu Samuel Becketts „Warten auf Godot“ oder Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ weckt. Denn der einem sozialen Experiment gleichende Ansatz ist ähnlich: Fosse lässt seine beiden Hauptfiguren Sie, gesungen von Naroa Intxausti, und Er, dargestellt von Tomi Wendt, in einem einsamen Haus nach der trauten Zweisamkeit suchen. Witzig: Bernhard Niechotz steckt die beiden in einen tristen Partnerlook, bei dem die Farben weiß und beige dominieren. So auf den ersten Blick vermittelt das Ehepaar engste Verbundenheit, doch kaum in der Einsamkeit angekommen, melden sich Zweifel an. Es braust eine zunehmend deutlich werdende Disharmonie auf, die die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Martin Spahr wirklich gekonnt quasi als teils rauen, teils fantastisch anmutenden musikalischen Subtext auf die Bühne bringen.

Eine famose Idee, denn während die Eheleute noch um maximale Harmonie ringen, scheint sich die Musik schon vom einzwängenden Regelkorsett befreit zu haben und höchst individuelle Wege zu gehen. Richtig aufgewirbelt wird die Situation dann mit dem Erscheinen des Manns, Thomas Stückemann als Aufdringling, der die traute Zweisamkeit bis zur Belastbarkeitsgrenze torpediert. Kurz gesagt: Die Paarbeziehung wird durch das Aufkommen individueller Regungen einer echten Zerreißprobe unterzogen. Höchst gelungen ist es, dieses Ringen um Eigenständigkeit und der Frage nach dem Bedingtsein von Paarbeziehung im Bühnenbild von Marc Jungreithmeier zu verorten. Er hat eine große und strukturierte weiße Wand geschaffen, auf der immer wieder Videoinstallationen die Situation zuspitzen. Dadurch kommt etwas wie Laboratoriumsatmosphäre auf, die im Verbund mit Musik und Handlung eben schon an Beckett und Sartre denken lässt. Um es mal so zu sagen: Kuhlmann und Spahr haben eine höchst runde Inszenierung und eine Funken sprühende Kammeroper ins taT gebracht. Prädikat: Unbedingt anschauen!

Das hat auch mit der Leistung der Darsteller zu tun, die sich am Premierenabend allesamt glänzend schlugen. An erster Stelle Intxausti, die mit glockenklarer Stimme und Leidenschaft betörte und der es wirklich famos gelang, die emotional verstörte Ehefrau auf die Bühne zu bringen. Hut ab, auch vor Bariton Wendt und seiner stimmlichen Geschmeidigkeit sowie vor Tenor Stückemann, der die Eheleute zwar nur selten störte, dann aber effektiv und letztlich glänzend. Das Gesamtfazit ist klar: Obwohl die Kammeroper gerade mal eine Stunde dauert, ist sie sicherlich einer der Höhepunkte der aktuell laufenden Spielzeit.

Von Stephan Scholz, 21.10.2014, Gießener Anzeiger