Assam lässt die Puppen tanzen - Gießener Allgemeine Zeitung

01.01.1970

Im Stadttheater sind Magier am Werk. Und verzaubern mit Strawinsky im Doppelpack. Tarek Assam und Pascal Touzeau präsentieren zum Saisonauftakt das Stück »Petruschka vs. Feuervogel«. Zum Sterben schön.


Und das ist alles nur geträumt. Zumindest nach der Pause, wenn der sterbende Petruschka sich in eine Liebesgeschichte hineinfantasiert. Darin befreit er als heldenhafter Ivan die schöne Prinzessin Zarewna aus den Klauen des bösen Zauberers Kastschei. Dazu tobt Strawinsky im Doppelpack durchs Stadttheater. Zwei Tanzstücke des russischen Altmeisters setzen pulsierende Zeichen. In »Petruschka vs. Feuervogel« haben sich die Choreografen Pascal Touzeau und Tarek Assam der Klassiker angenommen und sie miteinander verwoben.

Gießens Ballettdirektor Assam widmet sich »Petruschka«, während Touzeau, bereits in der letzten Spielzeit bei der erfolgreichen »Spieluhr« mit im Boot, den »Feuervogel« entfacht. Herauskommen Interpretationen voller Detailliebe und Einfallsreichtum. Mehr als 100 Jahre nach der Uraufführung beider Stücke feierten sie am Samstagabend zum Saisonauftakt im nicht ausverkauften Großen Haus Premiere. Vom Publikum gab es lang anhaltenden rhythmischen Applaus.

Apropos Rhythmus. Strawinsky, damals ein Neuerer der Ballettmusik, platziert mit seinen impressionistischen Klängen Ausrufezeichen in Form von Synkopen, Taktwechseln, Bitonalität, Arpeggien und allerlei chromatischen Eilwendungen, die den Orchesterapparat (die Musik kommt in Gießen vom Band) bis ins schärfste Fortissimo treiben. Die 13 ausführenden Mitglieder der Tanzcompagnie meistern die von der Musik geprägten anspruchsvollen Choreografien mit Bravour.

Sven Krautwurst verkörpert im ersten Teil des Abends eindringlich die Puppe Petruschka. Der gebürtige Coburger zieht mit seiner Bühnenpräsenz, Anmut und Artistik alle Augenpaare auf sich. Ihm in nichts nach steht Alberto Terribile (Puppenspieler und Feuervogel). Seine Performance verfügt über Chuzpe, Kraft und Ausdruck. Terribile ist mit seiner Körpersprache in nur einer Spielzeit in Gießen zum etablierten Tänzer herangereift. Als Prinzessin bezirzt Mamiko Sakurai die Sinne, während Francesco Mariottini als Ivan glänzt und Romain Arreghini (Mohr und Kastschei) in einem furiosen »Höllentanz« brilliert. Das übrige Ensemble agiert punktgenau und mit großer Ausstrahlung.

Assams »Petruschka«-Protagonisten sind weiß gewandet mit roten und schwarzen Akzenten, agieren vor und hinter vier fahrenden dunklen Bühnenelementen (Kostüme und Ausstattung: Imme Kachel). Erzählt wird eine tragische Puppengeschichte: Petruschka verliebt sich in die Ballerina (Yuki Kobayashi) und wird vom Mohr, der ebenfalls ein Auge auf die Grazile geworfen hat, ermordet. Strawinskys Schnitttechnik, die Szene für Szene aneinanderreiht und so den Kampf zwischen Gut und Böse auch musikalisch sichtbar werden lässt, nutzt der Ballettdirektor für eine gestenreiche Interpretation. Besonders die Gruppenszenen scheinen vor Dynamik zu bersten – Assam lässt in einer dichten Lesart die Puppen tanzen.

Diese Dichte wandelt Touzeau nach der Pause im »Feuervogel« ab: Die Tänzer in Schwarz, das Licht gedimmt, den Chorus auf stimulierende Einwürfe reduziert, erscheint seine Sichtweise als Kontrapunkt. Touzeau macht aus der magischen Figur des Feuervogels, der im Original eine feengleiche Gestalt hat und von einer Frau verkörpert wird, einen männlichen Retter im roten Gewand, ohne dass dabei die Story ins Wanken gerät. Im Gegenteil: Touzeau lässt den Feuervogel fliegen.

Am Ende ergießt sich Wasser vom Schnürboden aus auf Petruschka und Ivan, die in diesem Kombi-Werk ein und dieselbe Person sind (auch wenn sie von zwei Tänzern dargestellt werden), und wäscht beide rein. Assam und Touzeau haben ihren Strawinsky schillernd und mystisch inszeniert. Das lässt für die nächste Spielzeit auf ein neues »Frühlingsopfer« hoffen, das dritte und bis heute erfolgreichste Tanzstück des Komponisten aus dieser Zeit.

Manfred Merz, 12.10.2015, Gießener Allgemeine Zeitung