„Bunte Republik Deutschland“ - Gießener Anzeiger

18.10.2015

Es gab reichlich feierliche Ereignisse am Tag der Deutschen Einheit, doch der Abend zur „Bunten Republik Deutschland“ im taT am Samstag erwies sich als ebenso unterhaltsam wie inhaltlich tragfähig. Das Schauspielensemble des Stadttheaters hatte sich was einfallen lassen, und das volle Haus war höchst angetan.

Anne-Elise Minetti, Petra Soltau, Mirjam Sommer (auch Gitarre), Rainer Hustedt (auch Saxofon), Milan Pesl (auch Gitarre), Markus Rührer, Stan Seegel (Bass) und Volker Seidler (Schlagzeug) waren „aus aktuellem Anlass“ und der Not eines geplatzten Termins heraus angetreten und boten eine ansprechende Vielfalt der Formen und Inhalte. Einmal mehr waren Darsteller und Mitarbeiter des Theaters auch mit ihren hörenswerten instrumentalen Fähigkeiten zu erleben.

Till Schweiger habe abgesagt, und zwar „total nett“, hieß es zu Beginn, und „Der Abend muss seriöser werden“. Dazu trug Rainer Hustedt mit seiner Unterteilung des Publikums – ganz vorne konnte man auf Kissen liegen – in Grillen („Wir chillen“ und Ameisen „Wir suchen Essen“) zunächst nicht bei, hob aber die Stimmung merklich an. Mit dem durchaus kritischen Beatles-Titel „Revolution“ fanden sich dann erstmals alle Akteure zur Musik zusammen, und zwar ziemlich gut.

Bald kristallisierte sich in der Show eine generell friedensliebende und völkerverständliche Grundstimmung heraus. Prägnante Zitate zu Kafkas Herrn K. und ein Dialog aus Brechts Mutter Courage etwa, der mit beißender Ironie liebevoll den Krieg als Vater aller Dinge zeichnet; Petra Soltau und Markus Rührer machten das, etwas zu weit hinten platziert, zu einem leicht gruseligen Augenblick. Erwartungsgemäß wurden alle Texte professionell vorgetragen – es ist immer ein Genuss, Schauspieler lesen zu hören. Hinzu kamen eindringliche Szenen zum Thema Flucht und andere Texte, die gängige Vorurteile thematisierten und aufspießten.

Als Überraschung erwiesen sich einige Songs, die Mirjam Sommer (Gitarre) und Anne-Elise Minetti im Duett vortrugen, etwa Michael Jacksons „Man in the mirror“ und eine berührende Fassung von John Lennons „Love is real“. Vor allem musikalisch überzeugend kam auch Sommers Eigenkomposition „Long way home“; solo und sehr ausdrucksvoll.

Sommer lieferte mit einem knallharten Text von Christina Beckmann „Du fühlst nichts, du besitzt nichts“ über die fürchterlichen Umstände einer Flucht übers Meer auch einen der anrührendsten Momente des durchaus auch besinnlichen Abends. Sehr nachdenklich machte dann allerdings der Einspieler des Bundesinnenministers zum Asylproblem, der mit markiger Stimme Anpassung forderte und sich nicht entblödete, den Handybesitz der Flüchtlinge zu thematisieren: „Wo die das Geld dafür herhaben“ - genau wie der letzte fremdenfeindliche Depp. Wie sagte demgegenüber ein syrischer Flüchtling sinngemäß über Deutschland: „Es ist wie im Paradies hier – nie fallen Bomben.“

Den fetzigen Abschluss des Abends gab es vom gesamten Ensemble als Band und Udo Lindenbergs „Bunter Republik Deutschland“, in dem freundlich die Möglichkeiten der Immigration geschildert werden: „Wir steh’n am Bahnsteig und begrüßen jeden Zug, denn graue deutsche Mäuse, die haben wir schon genug“. Ein anregender und durchaus berührender Abend. Mordsbeifall.

 

Heiner Schultz, 05.10.2015, Gießener Anzeiger