Carolin Weber und Petra Soltau als eindringliche „Patentöchter“ auf taT-Studiobühne - Gießener Anzeiger

14.11.2015

Die kleine Schwester Julia hat so von ihrer großen Schwester geschwärmt: Bis zu jenem 30. Juli 1977, als Susanne Albrecht die beiden RAF-Gesinnungsgenossen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt ins Haus der befreundeten Familie Ponto führt und dort die tödlichen Schüsse auf den Bankier fallen. Auch danach beschwört Julia immer wieder: „Susanne hat nicht geschossen!“ Und die 13-Jährige leidet unter den Fahndungsfotos ihrer Schwester, die an jeder Litfaßsäule in der Hamburger Innenstadt hängen. Die Reaktion ihrer Mitschüler, Lehrer, Nachbarn: Schweigen. Denn sie gehört zur „Täterfamilie“.

Auch die Opferfamilie kommt zu Wort in dem eindringlichen Kammerstück „Patentöchter“, das jetzt in der taT-Studiobühne Premiere hatte. Ein hervorragendes Team füllt den Text mit vielen Emotionen: Carolin Weber ist eine überzeugende Julia Albrecht, der das Kindheitstrauma noch deutlich anzumerken ist.

Ein schweres Schicksal hat Corinna Ponto zu meistern. Sie war 20 Jahre alt, als ihr Vater erschossen wurde. Petra Soltau spielt die Tochter des Opfers, die selbst zum Opfer wird, mit allen Facetten, die ein solcher Schicksalsschlag provoziert: Fassungslosigkeit und Wut, doch im Gespräch mit Julia Albrecht gelingt es ihr, die Vorfälle reflektierter zu betrachten. Für die szenische Einrichtung des Stücks sorgt Christian Lugerth, für die schlichte, doch wirkungsvolle Ausstattung Denise Schneider. Dramaturgie: Gerd Muszynski. Nach 75 Minuten Spielzeit belohnten die Zuschauer Regie, Technik und vor allem die engagierten Schauspielerinnen mit wohlverdientem Applaus.

Der szenischen Einrichtung liegt das gleichnamige Buch der beiden Protagonistinnen zu Grunde: Julia Albrecht, die Patentochter von Ponto und jüngere Schwester der Tatbeteiligten Susanne Albrecht, nimmt Kontakt auf zu Corinna Ponto, der Tochter des Ermordeten und Patentochter von Hans-Christian Albrecht. 30 Jahre nach dem Mord an Jürgen Ponto gelingt es den beiden Frauen, wieder Kontakt zwischen den ehemals befreundeten Familien herzustellen, die Geschehnisse von damals zu thematisieren und aufzuschreiben. Das Buch erschien 2011 mit dem Titel: „Patentöchter – Im Schatten der RAF. Ein Dialog.“

Zeitgenossen und Nachgeborene werden das Stück „Patentöchter“ mit unterschiedlichen Augen sehen. Bei den Älteren sind die Erinnerungen plötzlich wieder da, wie schon wenige Tage zuvor bei den Nachrufen auf Helmut Schmidt. Die Inszenierung hilft dabei, die Erinnerungen wieder lebendig werden zu lassen: O-Töne über Band, Ausschnitte aus der Tagesschau, an die Wand projiziert wie auch die zahlreichen Fotos.

Eindrucksvoll die beiden Frauen, in schlichten grauen Kostümen, an zwei gegenüberliegenden Seiten der Bühne. Später kommen sie an einem Tisch in der Mitte des Raumes zusammen, genau an der Stelle, wo zuvor nur ein Blumenstrauß zur Erinnerung an den toten Ponto gelegen hatte. Nähe und Distanz, wirkungsvoll in Szene gesetzt. Zudem viele aufschlussreiche Zitate: „Das war die Ankunft an einem Tatort, ein zu Hause gab es nicht mehr“, beschreibt Corinna Ponto die Rückkehr in ihr Elternhaus. Zitate auch von Susanne Albrecht, die sich nach der Tat 13 Jahre lang versteckt hielt, die längste Zeit davon mit zweiter Identität in der damaligen DDR. Es folgte ein lebenslänglicher Gefängnisaufenthalt, nach 24 Jahren ist sie frei gekommen.

„Heilt die Zeit alle Wunden?“, fragt sich Julia Albrecht und Corinna Ponto sagt: „Verbrechen sind klaffende Abgründe. Aufklärung bietet wenigstens eine Brücke darüber“.

 

Ursula Hahn-Grimm, 14.11.2015, Gießener Anzeiger