Der König von Deutschland - Wetzlarer Neue Zeitung

07.03.2016

GIESSEN "Rio Reiser - König von Deutschland" heißt das neue Erfolgsstück am Stadttheater Gießen. Geradezu frenetisch der Applaus am Ende vor ausverkauftem Haus Samstagabend.

Die Zuschauer jubeln den Akteuren zu: Den Hauptdarstellern Lukas Goldbach (Rio Reiser) und Roman Kurtz (Erzähler), der ambitionierten Hausband, den zwei Gastmusikern und vor allem dem musikalischen Leiter Sascha Bendiks und Regisseur Christian Lugerth.

Eine ideenreiche, einfühlsame Inszenierung, in der genau auf Tempo und Lautstärke geachtet wird. Ganz leise fängt es an: Der Erzähler (Spitzenklasse: Roman Kurtz) steht vor dem Vorhang und liest aus Reisers Autobiografie das Kapitel über die Geburt des Sängers in Berlin. "Ich hab nicht geschrien. Ich war ein gutes Kind." Das sollte sich schlagartig ändern. Der Vorhang geht auf: "Macht kaputt, was euch kaputt macht", brüllt Rio Reiser, Frontmann der ersten deutschen Rockband "Ton Steine Scherben" ins Mikrofon. Mit dem Schauspieler Lukas Goldbach ist eine nahezu ideale Besetzung des legendären "Königs von Deutschland" gefunden.

"Eine musikalische Biographie von Heiner Kondschak" ist im Programmheft zu lesen. Lugerth und Bendiks verbinden die einzelnen Songs und Szenen zur spannenden Rahmenhandlung.

Herausgekommen sind knapp drei Stunden beste Theaterunterhaltung: Für die älteren Semester verbunden mit Erinnerungen an die Studien-, Demo- und WG-Zeiten. Für junge Zuschauer ein Lehrstück über die Geschichte der BRD in den 70ern und 80ern, die APO und ihre Erben, die Hausbesetzerszene, Anti-Atomkraft-Bewegung und die Gesellschaft nach dem Mauerfall.

Zu erleben sind in einem musikalisch grandiosen Schnelldurchlauf die Höhen und Tiefen von "Ton Steine Scherben", die 1986 trotz des Managements von Claudia Roth (köstlich: Rainer Hustedt) mit einem Schuldenberg von 200 000 Mark dastanden. Zuvor noch der Umzug von Berlin in die Landkommune.

Vom Ende einer bekannten Band und vom Beginn einer Solokarriere

Reiser startet eine Solokarriere. "Wenn ich König von Deutschland wär" schafft es bis in die Charts und ist unvergessen. Wunderbar gelöst: Lukas Goldbach singt ganz in Rio-Manier, doch mit eigenen Untertönen. Eine 100-prozentige Kopie des Ausnahmekünstlers wäre eher uninteressant und ist ohnehin nicht zu erreichen.

Bewegende Szenen, bewegende Lieder: Rio Reiser, der Kämpfer und Romantiker. Er ist einer der ersten Musiker, der sich in den 70er Jahren zu seinem Schwulsein bekennen. In der Inszenierung wird dieses mutige Bekenntnis besonders thematisiert mit der Schaffung des "Ewigen Geliebten", mal einfühlsam, mal flott gespielt von Pascal Thomas.

Doch das Leben des Sängers ist kräftezehrend: "Ich bin müde", schreit der Sänger und haut verzweifelt auf die Tasten seines Klaviers. Das kann unter die Haut gehen. Im August 1996 stirbt Reiser, und das Publikum bekommt nun auf ganz besondere Weise sein poetisches "Junimond" zu hören. Finito, das Publikum tobt, als Zugabe spielen die Musiker "Halt dich an deiner Liebe fest" und verlassen einer nach dem anderen die Bühne Richtung Zuschauerreihen, bis nur noch Anne-Elise Minetti mit ihrem Akkordeon im Rampenlicht steht. Dann geht auch sie.

Unverzichtbar: Mirjam Sommer (Christine Schily und andere) und Milan Pesl (Lanrue) waren mit viel Musikalität und Begeisterung dabei. Die Gastmusiker Sven Demandt (Schlagzeuger) und Christian Keul (Sichtermann, Bass) rundeten den Sound ab. Udo Herbster hat sich das authentischen Bühnenbild und die Kostüme einfallen lassen...

 

Ursula Hahn-Grimm, 07.03.2016, Wetzlarer Neue Zeitung