Donnernder Applaus für Premiere von „Petruschka vs. Feuervogel“ - Gießener Anzeiger

01.01.1970

Wuchtig, sperrig und voller Energie: Es ist ein betörend schöner Tanzabend, den die Choreografen Tarek Assam und Pascal Touzeau mit der Uraufführung „Petruschka vs. Feuervogel“ derzeit im Stadttheater auf die Bühne bringen. Am Samstag war Premiere der beiden Klassiker „Petruschka“ und „Feuervogel“, die die Künstler intelligent miteinander verbinden. Am Ende gab es donnernden Applaus für die Inszenierungen der Stücke zu Musik von Igor Strawinsky, die in dieser Form sicherlich als einer der ersten Höhepunkte der aktuellen Spielzeit gelten können.

Denn Ballettdirektor Assam und Kollege Touzeau, der in der vergangenen Spielzeit bereits mit seinem Beitrag zum Episodenstück „Spieluhr“ aufmerken ließ, haben ein mitreißendes Gesamtkunstwerk geschaffen, das den Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute kaum zu Atem kommen lässt. Geschickt sind diese Klassiker der Ballettkunst miteinander verbunden: Assam zeichnet für „Petruschka“ verantwortlich und verortet die Geschichte um den unglücklichen Petruschka, der als Puppe von einem Gaukler gehalten wird, auf der Straße. Petruschka verliebt sich in die Puppenkollegin und geht daran zugrunde. Nach dem Tod des Helden gibt es eine Sequenz, in der sein Sterben reflektiert wird, und genau an diesem Punkt knüpft Touzeau mit seinem „Feuervogel“ an.

Alles ist in Aufruhr

Er bringt Petruschka zu Beginn noch auf die Bühne, um ihn langsam in die Figur des Ivan gleiten zu lassen. Kurz, schon auf der dramaturgischen Ebene zeigt sich die Intelligenz dieser Inszenierung. Denn den beiden renommierten Choreografen beleuchten in dieser Verbindung zwei Seiten einer Medaille: Während Petruschka noch an seinem Streben nach Individualität, die sich in der Liebe zeigt, scheitert, steht Ivan auf, um gegen jene zu kämpfen, die das Selbst versklaven.

Diese unterschiedlichen Perspektiven sind in der Gestalt der beiden Inszenierungen sehr gut nachvollziehbar. Assam setzt in Sachen Bühne, wie auch die Kostüme hat sie in beiden Fällen Imme Kachel gestaltet, auf die belebte Straße, die in einem hohen Grad der Abstraktion daherkommt. Für Bewegung sorgen eine Reihe dauerhaft bewegter Stellwände, die die Unruhe und Vitalität des äußeren Raumes umsetzen. Famos, ebenso wie die Choreographien, die mit unglaublicher Dynamik bestechen. Alles bewegt sich, alles ist in Aufruhr in dieser von Uniformität geprägten Lebenswelt, in der es schon auch ruppig zugeht. Mittendrin entfaltet sich die tragische Geschichte von Petruschka, ertanzt mit tiefer Emotion, die am Ende umschlägt in Mord und unaufhaltsame Tragödie. Das Drama spielt sich ab quasi im hellen Licht des Tages, das Touzeau in Teil zwei fast abdreht.

Wie schon in der „Spieluhr“ zeigt der Choreograph auch diesmal sein unglaubliches Gespür für Lichteffekte, für die in beiden Fällen Carsten Wank verantwortlich zeichnet. Touzeau lässt es dämmern auf der Bühne - konsequent, fasst er den „Feuervogel“ doch als Petruschkas Traum von der Freiheit auf. Wie in einem Traum entfaltet sich die Welt des Stücks, in der das Gute gegen das Böse antritt. Auf Ebene der Bewegungssprache besticht diese Vision mit betörender Tollkühnheit, Mut und Grazie, wobei vor allem das Gefühl des Regisseurs für die Effektivität der ertanzten Uniformität der Masse ins Auge fällt. Kurz: Auf höchstem Niveau ist es Assam und Touzeau gelungen, aus zwei Klassikern einen zu machen. Beim Blick auf das optische Erscheinungsbild der Teile fällt auf, dass es in beiden Fällen gelingt, der Historizität von Strawinskys Arbeiten Rechnung zu tragen. Denn in der Bewegungs- und Körperkultur und in Teilen der Bühnenoptik atmen diese beiden Stücke durchaus auch die Luft vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit Recht lässt sich von einem bezaubernden Tanzerlebnis sprechen. An dem die Tänzer der Gießener Tanzcompagnie am Premierenabend natürlich einen maßgeblichen Anteil hatten. Auf der Bühne zu erleben sind Sven Krautwurst, William Banks, Alberto Terribile, Francesco Mariottini, Yuki Kobayashi, Magdalena Stoyanova, Romain Arreghini, Iacopo Loliva, Caitlin-Rae Crook, Agnieszka Jachym, Mamiko Sakurai, Kristina Norri und Skip Willcox. Sie alle machen ihre Sache richtig gut und stellen einmal mehr unter Beweis, dass die heimische Tanzcompagnie ganz oben mitspielt.

Das Fazit: Wer diese Produktion verpasst, ist definitiv selbst schuld. Assam, Touzeau und die Ihren überzeugen auf ganzer Linie. Ein Wort an die, die Lust auf Tanztheater haben, bislang aber noch nicht dabei waren: Dieser Besuch lohnt sich, und das Programmheft, das die Geschichte der Ballette in kurzen Texten sehr schön auf den Punkt bringt, bietet einen guten Einstieg. Und dann heißt es: Einfach einlassen auf diese wunderschönen Gesamtkunstwerke.

 

Stephan Scholz, 12.10.2015, Gießener Anzeiger