Eugen Onegin tritt im Stadttheater das Glück mit Füßen - Gießener Allgemeine Zeitung

14.09.2015

Eugen Onegin verschmäht die schöne Tatjana. Er ist zu eitel für die stete Liebe und will von Hochzeit nichts wissen. Der Dandy zieht ruhelos durch die Welt. Doch das bekommt ihm nicht. Nach der Stadttheater-Premiere der gleichnamigen Tschaikowsky-Oper wissen nun alle, warum. Das Glück steht vor ihm, doch er tritt es mit Füßen. Eugen Onegin erkennt das Edle der ihn anbetenden Tatjana erst, als es zu spät ist. Um die Uhr noch einmal zurückzudrehen und die eigene Dummheit ungeschehen zu machen, inszeniert der gealterte Dandy sein Leben aufs Neue, mit Filmteam und seiner selbst als Hauptfigur. Doch auch der zweite Durchgang dieses eitlen Lebens misslingt. Am Ende steht Onegin allein da. Die Liebste hat sich einen anderen erwählt, der sie auf Händen trägt.

Tatjana Miyus singt und spielt die schüchterne Tatjana bezaubernd. Der lupenreine Sopran der jungen Sängerin aus der Ukraine glänzt bis in die höchsten Höhen. Miyus ist die Entdeckung des Abends und ihre Briefszene im ersten Akt eine zu Herzen gehende Hommage an Tschaikowsky. Dafür gibt’s langen Applaus. Der Regieeinfall mit der vervielfältigten Tatjana steht in dieser Szene für die Möglichkeiten, die der Liebesbrief eröffnet – Onegin nutzt sie nicht. Die beiden Mezzosopranistinnen Marie Seidler (Tatjanas Schwester Olga) und Linda Sommerhage (Mutter Larina) sind erste Wahl.

Christian Miedl in der Rolle der Titelfigur liefert eine solide Leistung ab, während sich Tenor Ralf Simon (Onegins Freund Lenski) in seinem vierten Stadttheater-Gastspiel nach verhaltenem Auftakt zu einer beeindruckenden Leistung steigert. Seine Arie, in der er kurz vor dem Tod das eigene Leben vorüberziehen sieht (»Kuda vi udalilis/Wohin seid ihr entschwunden«), ist die intensivste Männer-Partie dieser Premiere. David Jerusalem als Fürst Gremin singt einen bärenstarken Bass. Der Chor unter der Leitung von Jan Hoffmann setzt Maßstäbe. Dank der russischen Sprache gelingen geradezu monumental wirkende Passagen.
Das Orchester spielt in der typischen Schumann-Formation mit acht ersten Geigen, vier Hörnern und ansonsten doppelter Bläserbesetzung. Hofstetter hält sich an die Metronomvorgaben des Komponisten, was der Oper zu einer flotten Gangart verhilft. Die Musiker entwickeln ein Gespür für Tschaikowskys romantische Tonsprache, der mit diesem Werk sein eigenes Gefühlsleben aufarbeitete. Er heiratete 1877 seine ihn verehrende Tatjana, die Antonina hieß, um sich nach drei fatalen Monaten seiner Homosexualität zu entsinnen und sich wieder scheiden zu lassen.
»Eugen Onegin« im Stadttheater ist ein musikalischer Hochgenuss mit in Bann ziehenden Sängern und einem kreativen Regieeinfall, der aber nicht bis ins letzte Detail gefangen nimmt.

 

Manfred Merz, 14.09.2015, Gießener Allgemeine Zeitung