Ganz großes Kino: „Kuss der Spinnenfrau“ als spartenübergreifendes Großereignis und mit überragenden Darstellern - Gießener Anzeiger

09.12.2014

Ganz großes Kino, herzzerreißend traurig und umwerfend komisch. Nicht etwa im Kinopolis am Berliner Platz, sondern schräg gegenüber im Stadttheater. Gegeben wird das Musical „Der Kuss der Spinnenfrau“. Alles in bester 3D-Qualität, Sound und Lichteffekte vom Feinsten. Und das Beste daran: alles live – Schauspieler, Sänger, Musiker und Tänzer. Erfolgsgaranten als Sänger sind dabei die Gießener Publikumslieblinge Sophie Berner und Andrea M. Pagani; hinzu kommt Musical-Star Thomas Christ. Die Regie bei diesem spartenübergreifenden Großereignis hat Intendantin Cathérine Miville übernommen, und Bühnenbildner Lukas Noll zaubert ein weiteres Meisterwerk an Bildern und Räumen auf die Bühne. Die Kostüme stammen von José-Manuel Vazquez. Unübertroffen wieder Tarek Assam mit seiner Tanzcompagnie, die dem Ganzen den richtigen Pfiff verleiht. Die musikalische Leitung schließlich liegt in den Händen von Gastdirigent Andreas Kowalewitz.

Erschreckend glaubhaft

Namen, Namen, Namen: Eine wichtige Rolle im Gesamtgefüge hat auch der Theaterchor unter Leitung von Jan Hoffmann, und in den Rollen als Gefängnisdirektorin beziehungsweise Gefängniswärter sind Petra Soltau, Harald Pfeiffer und Maximilian Schmidt erschreckend glaubhaft. Wenn alle zusammenkommen, sind über 40 Menschen auf der Bühne versammelt, singend, tanzend, revoltierend.

Exquisite Begleitung

Stimmt das Bühnenbild zum Auftakt, ist schon die halbe Miete zum Gelingen einer Aufführung verdient. Beim „Kuss der Spinnenfrau“ stellt sich sofort der Wow-Effekt ein. Ein riesiges Spinnennetz bis in die hintersten Winkel des Bühnenraumes, in den Vordergrund schieben sich wenig später die hohen Gitter des Foltergefängnisses eines totalitären Staates. Dazu bewusst grell die Bläserklänge des Philharmonischen Orchesters Gießen, das an diesem Abend wieder eine exquisite musikalische Begleitung der dramatischen Ereignisse auf der Bühne präsentiert. Ganz klein im Hintergrund zunächst die Zelle der beiden so unterschiedlichen Gefangenen. Der Marxist Valentin (Thomas Christ) wird von der Gefängnisdirektorin (Petra Soltau) gezielt in eine Zelle mit Molina, einem homosexuellen Schaufensterdekorateur (Andrea M. Pagani), gesteckt. Sie erhofft sich, von Molina mehr über Valentins politische Verbindungsleute zu erfahren. Die anfängliche Ablehnung Valentins gegenüber der „Schwuchtel“ wandelt sich bald in Zuneigung zu einem warmherzigen Menschen mit großem Erzähltalent und einer alles übertreffenden Fantasie. Pagani erweist sich als ganz hervorragende Besetzung des Molina, der nicht nur mit seiner großartigen Stimme überzeugt, sondern mit seinem feinen Humor das Publikum immer wieder zum Lachen bringt. Und Thomas Christ als Marxist Valentin ist gerade die richtige Komplettierung: Ebenfalls mit einer kraftvollen, wunderbaren Stimme ausgestattet, gibt er mit ernstem Gesichtsausdruck den linientreuen Marxisten.

Das Geheimnis ihres tristen Zellenlebens: Molina lässt Valentin an der Fantasiewelt alter Film teilhaben, erzählt von der schönen Aurora, gespielt von der hinreißenden Sophie Berner, die mit Tanz und Glamour alle Schrecken des Gefängnisses überstrahlt.

Die Kraft dieser Geschichte erwächst aus dem fast übergangslosen Wechsel von grausamer Realität und strahlender Fantasiewelt. Und in der Mitte zwischen allem Geschehen lauert die Spinnenfrau (ebenfalls Sophie Berner) in ihrem Netz, die mit erotischen Reizen lockt und mit ihren Küssen alles Lebendige tötet.

Dennoch, keine leichte Kost in der Vorweihnachtszeit. Die Schreie der Gefangenen hinter den Gefängniszäunen erinnern nur allzu sehr an die Realität. Im Programmheft werden kurze Statements aus Guantanamo, Kabul, Bukarest und Ägypten zitiert. Auch die Diskriminierung Homosexueller gehört längst nicht der Vergangenheit an. Dennoch handelt es sich beim „Kuss der Spinnenfrau“ nicht um ein reines Problemstück, dafür wird man schließlich ganz musical-like durch die Welt der Fantasie geführt.

Revue

Traumhafte Musikfilm-Szenen, temperamentvolle Revue-Auftritte, ergreifende Songs („Marta“, „Ich mach Wunder wahr“, „Ich würde alles für ihn tun“ und viele andere), vom Publikum immer wieder mit Zwischenapplaus belohnt: Das ist der Stoff, aus dem erfolgreiche Musicals sind.

Erfolgsduo

Wie kam es dazu? Viel gelesen war schon der Roman „Der Kuss der Spinnenfrau“ des argentinischen Schriftstellers Manuel Puig aus dem Jahr 1976, der für das Musical als Grundlage diente. Oscargekrönt dann die gleichnamige Verfilmung von Hector Babenco aus dem Jahr 1985. Wenig später, nämlich 1993, folgte die Bearbeitung von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Text) als Musical. Das Erfolgsduo ist in Gießen nicht unbekannt: Im Musical „Cabaret“ feierten Sophie Berner und Andrea M. Pagani in Gießen große Erfolge. Mit dem „Kuss der Spinnenfrau“ wird es nicht anders kommen. Deshalb die Empfehlung: unbedingt ansehen, nicht nur für Musical-Fans geeignet.

Von Ursula Hahn-Grimm, 09.12.2014, Gießener Anzeiger