GEGEN DIE WAND: Der Preis der Freiheit - Gießener Allgemeine Zeitung

04.04.2016

Zwei Deutschtürken suchen nach dem Leben. In der Oper »Gegen die Wand« wollen sie es finden. Zusammen und dennoch jeder auf seine Weise. Sex und Alkohol sind ihre launigen Begleiter. Doch dann kommt alles ganz anders.

Intendantin Cathérine Miville ist auch als Regisseurin stets bemüht, die Besucherzahlen in ihrem Haus zu erhöhen. Folglich will sie mit ihrer neuen Oper »Gegen die Wand« von Ludger Vollmer aus dem Jahr 2008 nach dem gleichnamigen Erfolgsfilm von Fatih Akin vermehrt Türken ins Stadttheater locken. Die bejubelte Premiere vom Samstagabend im Großen Haus lässt hoffen.

Doch was kann man erwarten von zwei Menschen, die sich in der Psychiatrie kennenlernen? Die junge Sibel landet mit ihrem Freiheitswunsch und ihren Sexsehnsüchten nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus. Der nicht mehr ganz so jugendliche Cahit säuft, hat keine Perspektive und will sich ebenfalls ins Nirwana stürzen. Vollmer, der auch das Libretto geschrieben hat, zeichnet seine weibliche Hauptfigur zugänglicher als das Akin im Film tut. Und auch sein Cahit ist nicht der unrasierte türkische Bukowski-Typ aus dem Berliner Bären-Gewinnerstreifen von 2004.

Die beiden weichgespülten Charaktere nehmen in Gießen dennoch für sich ein. Miville gönnt den Protagonisten Raum zur Entfaltung. Allenthalben Aktion heißt ein Schlüsselwort, das sich in den stillen Momenten zum Kammerspiel verjüngt. Das Bühnenbild von Lukas Noll mit seiner Stahlkonstruktion und den zwei Stockwerken wirkt dabei kühl und distanziert. Oben gibt es einen diagonalen Gang. Im Hintergrund sieht es nach Industriebrache aus, vorn, im Erdgeschoss sozusagen, darf auf der großen Drehbühne, die in dieser Oper still steht, eine kleine Drehbühne kreisen. Sie dient als variabler Spielort, ist mal Wohnung, Kneipe, Elternhaus. Weiter vorn findet sich ein Steg zum Publikum.

Im Bühnenhintergrund, nicht im Graben, sitzt das Philharmonische Orchester Gießen hinter einer Vorhangwand, angereichert mit Gastmusikern, die sich türkischen Holzblasinstrumenten wie Kaval und Mey widmen sowie der Saz, der Langhalslaute. Dirigent Martin Spahr führt seine Recken mit ruhiger Hand durch die vielstimmige Partitur. Attila Hündöl spielt ein feines Solo auf dem Cello.

Kabarettist Muhsin Omurca als Cahits Freund Seref und Erzähler lässt aktuelle politische Bezüge in seine lakonischen Kommentare einfließen oder erklärt in launigen Worten auf Deutsch und Türkisch das Wesen der Germanen und Osmanen. Während der Handlung sitzt er meist stumm in der linken Bühnenecke und erläutert per iPad in Bildform den emotionalen Zustand der Akteure. Seine Zeichnungen sind als Projektion zu sehen: ein Goldfisch im Glas etwa, der sehnsüchtig auf einen anderen Goldfisch im Glas schaut, oder ein Vogel, der aus einem Käfig in den nächsten Käfig fliegt. Gemalte Philosophie. Es dürfte nicht verwundern, wenn Omurca alsbald mit einem seiner sechs Soloprogramme das Stadttheater unsicher macht.

Vollmers Musik gibt sich in ihrer treibenden Filmsprache bilingual, vereint türkische und westeuropäische Einflüsse. Der Komponist setzt auf fortwährende schlagwerkintensive Rhythmuswechsel, kleinteilige tonale Motive und verhilft dem Orgelpunkt zu neuem Leben. Der Einsatz türkischer Instrumente weckt die Lust an Istanbul. Davon ist auf der Einheitsbühne im dritten und letzten Akt leider nicht viel zu sehen. Omurca immerhin zeichnet zur Illustration ein paar Minarette.

Dilara Bastar verleiht ihrer Sibel wirksam Kontur. Ihr kraftvoller Mezzosopran beeindruckt mit guter Höhe und Volumen. Die orientalisch anmutenden Vierteltöne ihrer Eingangsarie meistert die gebürtige Türkin mit deutscher Gründlichkeit. Bastar wird zum Blickfang des Abends. Bariton Gabriel Urrutia als Cahit lotet seine Rolle feinfühlig aus und gibt ihr damit Substanz. Stimmlich ist er ebenso eine Bank wie Tuncay Kurtoglu, Kerem Kürkcüoglu und Mine Yücel. Der kanadische Tenor und Gießener Dauergast Dan Chamandy haut als Barkeeper auf den Putz. Tomi Wendt kann sich in einem Kurzauftritt als Psychiater sehen lassen. Und der Chor des Stadttheaters (Einstudierung: Jan Hoffmann) lässt wie immer aufhorchen. Die Breakdancer um Choreografin Inga Schneidt sollen für Atmosphäre sorgen, sind aber verzichtbar.

Mivilles Inszenierung zu den Themen Rituale, Sex, Gewalt und Alkohol entpuppt sich als erstaunlich zahm im Vergleich zum derben Textbuch. Dieser Kontrapunkt macht aus den beiden Hauptfiguren beinahe sympathische Typen, die sich im Strudel ihres deutsch-türkischen Lebens mit seinen ein-engenden Traditionen auf der einen und freien Moralvorstellungen auf der anderen Seite aufreiben. Manches fühlt sich in dieser Oper nach klassischer Tragödie an. Was im Theater beileibe kein Nachteil sein muss.


Manfred Merz, 04.04.2016, Gießener Allgemeine Zeitung