GEGEN DIE WAND: emotional packender Opernabend - Gießener Anzeiger

03.04.2016

Bräutigam: „Du blöde Fotze.“ Braut: „Ja, das bin ich.“ – Nanu, was ist denn hier los? Auf welcher Hochzeitsfeier sind wir denn hier gelandet? Wir, die Zuschauer, sind Zeuge einer türkischen Hochzeit mit vielen Gästen und lauter, fröhlicher Musik. Und unmittelbar nach diesem merkwürdigen Dialog erhebt sich die Braut und singt ihrem frisch angetrauten Mann ein betörendes Lied: „Ich küsse deine Hände, deine Füße“ – dazu Blicke voller Glut und verzehrender Leidenschaft.

In der Oper „Gegen die Wand“ von Ludger Vollmer wird das Publikum auf eine Achterbahn der Gefühle geschickt. In enger Anlehnung an den gleichnamigen, vielfach preisgekrönten Film des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin erzählt das Werk die Geschichte zweier Außenseiter, die gegen die Überlieferungen und Zwänge der Gesellschaft aufbegehren: Die junge Türkin Sibel überredet den Alkoholiker Cahit zur Scheinehe. Sie will aus dem streng-traditionellen Elternhaus ausbrechen, giert nach Leben und verwechselt das Leben in Freiheit mit schnellem Sex mit verschiedenen Männern. Er ist depressiv, säuft, hängt in Bars ab und landet schließlich im Gefängnis.

Spannendes Hörerlebnis

Dazu hat der Komponist eine raffinierte, äußerst subtile Musik geschrieben, in der westliche und orientalische Klangwelten auf faszinierende Weise miteinander verschmelzen und den Zuhörer gefangen nehmen. Es ist ein spannendes Hörerlebnis, zu dem das Philharmonische Orchester das Publikum über zweieinhalb Stunden einlädt. Zum klassisch besetzten Orchester gesellen sich an diesem Abend auch traditionelle türkische Instrumente, so dass sich unter der klugen und jederzeit inspirierenden Leitung von Martin Spahr ein erstaunlich farbenreiches Klangspektrum entfaltet. Hier hauchzarte, irisierende Geigentöne und ausgefeilte Melodien, da starke, vorwärtsdrängende Rhythmen von Schlagwerk und Bläsern. Die makellos dargebotene Musik geht ins Ohr und erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Nah am Zuschauer

Dem trägt auch die emotional packende Inszenierung von Cathérine Miville Rechnung, in der das Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte perfekt ausbalanciert ist. Die Effekte sind wohlbedacht eingesetzt, und nirgends gibt es ein Zuviel oder ein Zuwenig. Auch bringt sie in ihrer psychologisch ausgefeilten Personenführung das Geschehen nah an den Zuschauer heran. Und anders als im Film, der durch seine rohe, krasse Darstellung von Suff, Sex und Gewalt nicht jedermanns Sache ist, entscheidet sich die Regie für eine Bildsprache, die durch Andeutungen und ästhetische Überhöhung geprägt ist. Der Aussage ist dadurch nichts von ihrer Kraft und Intension genommen – eher im Gegenteil, möchte man meinen.

Und noch etwas: Da mit dieser Produktion nicht nur das traditionelle Gießener Opernpublikum, sondern auch türkische Besucher angesprochen werden sollen, wird sowohl in Deutsch als auch in Türkisch gesungen. Zudem gibt es deutsche und türkische Übertitel. Wie bei der Musik, wo Abendländisches und Orientalisches ineinanderfließen und eine neue Einheit ergeben, tragen auch die beiden Sprachen gleichberechtigt das Bühnengeschehen und verleihen ihm noch einen besonderen Reiz.

Erzählt wird eine düstere Ballade unserer Zeit zwischen Berlin und Istanbul. Grau in Grau ist das funktionale Einheitsbild, das Bühnenbildner Lukas Noll für die insgesamt 29 verschiedenen Schauplätze geschaffen hat und das sich durch Lichteffekte (Licht: Jan Bregenzer) rasch verändern lässt. Ein Gerüst mit Pfeilern unterteilt den Raum in unten und oben. Großformatige Schwarzweiß-Fotografien von Glasbausteinen, Treppenaufgängen und leeren Fluren charakterisieren das Milieu. Unten befindet sich das Wohnzimmer von Sibels Eltern, aber auch die Nachtbar, in der Cahit einen Nebenbuhler aus Eifersucht erschlägt, und die Opiumhöhle in Istanbul, in der Sibel ihre Sehnsüchte betäubt. Oben erscheint der Chor, der mit der Wucht eines antiken Chores die Handlung unterstreicht. Im Hintergrund ist das Orchester platziert, aus dem jeweils die vorzüglichen Solisten Puschan Mousai Malvani (Violine) und Attila Hündöl (Cello) auch sichtbar hervortreten, um zarte Liebesszenen zu untermalen.

Urbane Note

Da das ganze Stück durch seine mitreißende Rhythmik geradezu zum Tanz drängt, hat Cathérine Miville mit den Breakdancern um Inga Schneidt (Abtin Afshar-Ghotlie, Dominik Blenk, Markus Heldt, Mario Ngouen) einen guten Griff getan. Sie beleben die Szenerie, wirbeln munter umher und bringen eine urbane Note ins Spiel.

In der Rolle der flatterhaften, wild von ihren Sehnsüchten umhergetriebenen Sibel gibt die Sopranistin Dilara Bastar vom Staatstheater Karlsruhe eine bravouröse Vorstellung. Sowohl gesanglich als auch darstellerisch ist sie mit enormer emotionaler Hingabe bereit, bis an die Grenzen zu gehen. Im Verlauf des Abends gewinnt ihre Darstellung zunehmend an Intensität, und ihr Gesang ist einfach betörend.

Eindringlich auch Gabriel Urrutia, ebenfalls vom Staatstheater Karlsruhe, als Cahit. Er verfügt über einen kraftvollen, expressiven Bariton, muss sich aber zügeln, weil er einen innerlich gebrochenen Mann verkörpert, der seinen eigenen Gefühlen nicht traut und sich verkriecht.

Voller Ausdruck, Energie und Temperament zeigt uns die Soparnistin Mine Yücel Sibels Cousine Selma. In den weiteren Rollen Tuncay Kurtoglu (Vater), Denis Seyhan (Mutter), Kerem Kürkcüoglu (Bruder), Dan Chamandy (Barkeeper) und Tomi Wendt (Psychiater).

Eine besondere Rolle kommt dem deutsch-türkischen Kabarettisten Muhsin Omurca („Knobi-Bonbon“) zu, der mit dem Charme und der Redegewandtheit eines orientalischen Märchenerzählers zweisprachig durch die Handlung führt und die eine oder andere kabarettistische Spitze anbringt. „Wir lieben das Leiden“, sagt er zum Beispiel über seine türkischen Landsleute und fährt fort: „Wir sind Masochisten – und deshalb fühlen wir uns in Deutschland sauwohl.“

Volltreffer

Mit dieser Operninszenierung haben Cathérine Miville und das Stadttheater voll ins Schwarze getroffen. „Gegen die Wand“ gehört zum Besten, was diese Spielzeit zu bieten hat und dürfte auch über die Grenzen Gießens hinaus aufhorchen lassen. So empfand es auch das Premierenpublikum am Samstagabend im vollbesetzen Haus, das die Inszenierung und alle Mitwirkenden nach fast drei Stunden mit überschwänglichem Applaus feierte.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 04.04.2016, Gießener Anzeiger